Glatteis und Dornröschenschlaf

Godards „Allemagne Neuf Zero“, Sa., 21.3., West 3, 20.30 Uhr  ■ Von Christof Boy

Deutschland, kein Wintermärchen, aber dennoch stark vereist. Über die zugefrorenen Seen geht ein Mann mit einem Aktenkoffer — der lange Marsch des Eddi Constantine. Lemmy Caution ist zurück, und er hat nur einen Auftrag, aber einen schier unlösbaren. „Wo geht's hier nach Westen?“ ist seine Frage. Seit dem Wegfall jener Grenze, die die Welt so sichtbar in Ost und West einteilte, ein fast philosophischer Diskurs. Wo der Osten aufhört und der Westen beginnt, ist nicht mehr länger ein politisches Faktum, sondern etwas Offenes — Glatteis, auf dem sich jene linken Intellektuellen unsicher bewegen, die glaubten, die marxistische Idee würde schon überleben, auch wenn sich der kleine Betriebsunfall Kommunismus in Luft aufgelöst hat.

Für dieses Dilemma hat Jean-Luc Godard in seinem neuen Film Allemagne Neuf Zero wunderbare Bilder gefunden. Auf einem Feld, am Horizont eine verfallene Windmühle, trifft Lemmy Caution auf einen Ritter von besonderer Gestalt. Sancho Pansa schiebt einen Trabi über den Acker, während sein Meister Don Quichotte auf moderne Drachen losstürmt — gegen die gefäßigen Mäuler der Tagebau-Bagger. Trauerarbeit um ein Gespenst namens Sozialismus. Eine Liebe zu Deutschland. Am Anfang ist ein Wortspiel: Allemagne Neuf Zero, die neue Stunde Null oder nur ein Land im Jahre 90. Godard schätzt die deutsche Romantik und fürchtet den Faschismus. Sein Streifzug durch ein grenzenloses Deutschland vollzieht sich in stiller Verehrung, die die Wurzeln des Grauen jedoch niemals verleugnen kann. Deutschland ist Hegel und Heidegger. Weimar ist Goethe und Buchenwald. Sophie und Hans Scholl könnten heute dem Widerstand einen Luxus-BMW vorziehen. Godard zeigt nicht die Folgen einer Revolution im Herbst, sondern ein Volk im Dornröschenschlaf. Ein Land, von dem man noch nicht wissen kann, ob es wieder humanistisch, barbarisch oder vielleicht beides sein wird.

Mit Allemagne Neuf Zero führt Godard das Prinzip der mehrfachen Ton- und Bildebenen konsequent fort, das er schon in Nouvelle Vague mit Raffinesse eingesetzt hatte. Deutsche und französische Original- und Off-Töne vermischen sich, so daß sich eine Übersetzung eigentlich erübrigt. Um die Soundcollage voll erfassen zu können, erbat sich Godard eine Pressevorführung in einem Kino mit Dolby-SR, zu der er sich selbst ankündigte. Er kam dann doch nicht, ließ die enttäuschten Journalisten durch seinen Hauptdarsteller Hanns Zischler wissen, wie wichtig es ihm sei, daß der Film im Kino gezeigt wird. Nur dort könne sich die Bildästhetik des ohne jedes zusätzliche Licht gedrehten Filmes entfalten. Auf die Frage, warum Godard überhaupt keine Lampen aufbauen ließ, antwortete dieser: „Wir nehmen das Licht Gottes und glauben an Kodak.“

Jean-Luc Godard ist der John Zorn des Kinos: kurze, ineinander verschachtelte Sequenzen, angetippte Zitate, vage Assoziationen. Sein Film ist nur 62 Minuten lang, weil er genau diese Länge braucht. Andere Filme seien ihm inzwischen einfach viel zu lang. Doch sie laufen im Kino. Godards Film leider nicht. Das alte Dilemma. Es wird viel verloren gehen auf dem Weg ins Fernsehen. Deutsche Zwischentitel, Untertitel und übersprochene Original- Töne. Die diffizilen Tonüberblendungen werden verschwimmen, und auch die Stimmung des vorhandenen Lichts wird sich kaum vermitteln lassen. Lemmy Caution im Fond eines Taxis auf dem Ku'damm. Nur ein Schattenriß vor den Neonlichtern der Großstadt. Ein Bild an der Grenze zur Unterbelichtung. Das ist der Glaube ans Kino und eine klare Absage ans Fernsehen. Aber wer hält sich schon daran?