Meine polnische Jugend

Ein autobiographisches Kapitel zur bilateralen Verständigung  ■ Von Marc-Thomas Bock

Das erste Jahrzehnt

Der Blick streift aus der obersten Etage des Schulgebäudes über die Weiten der uckermärkischen Felder. Dort, hinter den braunen Äckern und dem aus Feldsteinen erbauten Kirchturm des Dorfes Bietkow, liegt Szczeczin, liegt Polen. Wir schreiben Mitte der siebziger Jahre. Die Bürgermeister kleiner Gemeinden um Prenzlau und Pasewalk herum tragen große Hemdkragen und keine Krawatte. Koteletten zieren ihre Schläfen. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen warten nach ihrer Bestellung auf die plangemäße Aberntung durch vorbildliche Kollektive werktätiger Genossenschaftsbauern. Alles ist gut.

Und auch in der großen Politik herrscht Harmonie: Die Generalsekretäre der sozialistischen Bruderparteien, Erich Honecker und Edward Gierek, reichen sich die Hände über die für alle DDR-Bürger offene Oder-Neiße-Friedensgrenze. Da die großen Schulferien anstehen, hat man den Austausch von Ferienlagerplätzen für deutsche und polnische Jungpioniere beschlossen. Die schon etwas älteren Schüler werden indes vom Staatsbürgerkundelehrer über die Andersartigkeit des polnischen Sozialismus informiert.

Da wäre zum Beispiel die Agrarfrage: Sechzig Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution besäßen die Polen immer noch eine privatisierte Landwirtschaft. Was also wäre der Panjewagen des polnischen Bauern gegen die Flotte unserer Mähdrescher aus dem volkseigenen Kombinat „Fortschritt“? Durch dieses kulakenhafte Relikt, so lernt man, seien die Deutschen gezwungen, den östlichen Nachbarn mitzuernähren. Aber auch die auf dem Szczecziner Flohmarkt erworbenen bunten Anstecknadeln so aktueller Popgruppen wie Abba oder Sweet geben Zeugnis von der ideologischen Indifferenz des Bruderstaates und sind bestimmten Pädagogen ein Dorn im Auge. Bei zahllosen Ausflügen mit den Eltern oder der Mopedclique sieht und kauft man in der Hafenstadt Szczeczin manches, was in der linientreueren Heimat nicht zu haben ist: Pepsi-Cola und Bubble-Gum, Markenjeans und Westzeitungen, Marlboro und ähnliches. In den von grauen Mietskasernen gesäumten Straßen parken die Trabis zuhauf. Sie alle sind versehen mit dem soeben ministerratsbeschlossenen DDR-Nationalitätenemblem. Rote und etwas rostige Straßenbahnen aus den Zwanzigern kreischen dem Hafenviertel entgegen. Dort, bei den Docks, riecht es nach Schaschlyk und großer, weiter Welt. In den späten siebziger Jahren bevölkert der Ostdeutsche die Stadt, Szczeczin avanciert zur Einkaufs- und Vergnügungsmeile. Delikatessen und verchromte Wasserhähne werden heimgeführt. Monate alte Ausgaben des 'Spiegel‘ werden zärtlich in die Türverkleidung des Lada gebettet, um den Zoll nicht zu verärgern. Der illegale Wechselkurs zum Zloty sichert das Gefühl monetärer Überlegenheit. Noch ist die „Kaskada“, Szczeczins berüchtigter Striptease-Palast, nicht abgebrannt, noch kann der mecklenburgische Bauer das Laster schauen. „Die Polenweiber...“, wird er später im Dorfkrug schwärmen. Und noch im Sommerurlaub 1979 raucht man am Ostseestrand von Frombork die letzte Klubowe-Kippe mit Gleichaltrigen. Nicht gesprochen — geradebrecht wird das universelle Verständigungsmittel Englisch.

Das zweite Jahrzehnt

„Kinder, in Polen herrscht der Kriegszustand. Die Grenze ist dicht!“ So beginnt die Physiklehrerin im Jahre 1980 ihre Unterrichtsstunde in der Abiturstufe. Von Streiks ist die Rede, von einer neu gegründeten Gewerkschaft in Danzig. Deren Name sei „Solidarität“ und weise allein damit schon auf die manipulatorischen Machenschaften ihres Führers, eines Lech Walesa, hin. Auch hier, in Eberswalde, gibt es eine Staatsbürgerkundelehrerin, die all dies zu interpretieren weiß. In den HO-Kaufhäusern der Kreisstädte werden plötzlich Bettwäsche und Kinderschuhe rar. Ganze Horden polnischer Frauen sollen beim Wegschaffen dieser für die eigene Bevölkerung vorgesehenen Bedarfsgüter beobachtet worden sein. Der sichtbare Verfall des proletarischen Internationalismus in den werktätigen Schichten wird durch die kluge Dialektik wachsamer SED-Kreissekretäre kompensiert. Diese zeihen auch manchen DDR-Rentner der zusätzlichen Warenhortung. Stanislaw Kania, nunmehr Parteichef der polnischen Kommunisten, läßt im 'Neuen Deutschland‘ Gerüchte westlicher Agenturen dementieren, die behaupten, der polnische Sicherheitsdienst habe Konzentrationslager für alle Dissidenten geplant. Dies sei falsch. Wirklich geplant, so Kania, seien lediglich Isolationszentren.

Irgendwann morgens vor Schulbeginn prangt das gesprühte Wort „Solidarnosc“ an der Wand der Turnhalle. Zwanzig Minuten nach Entdeckung der Inschrift naht eine uneigennützige Malerbrigade. Sie verschönt die Wand mit der begehrten Alkydharzaußenwandfarbe (weiß). Uneigennützige Ermittler in zivilem Grau durchfragen die Schulklassen nach subversiven Elementen. Sie erhalten elementar Subversives als Antwort.

Mitte der achtziger Jahre führt ohne persönliche Einladung durch einen polnischen Staatsbürger kein Weg mehr in das Nachbarland. Gras wächst in den Betonfugen der ehemaligen Reichsstraße von Berlin nach Stettin. Der lebhafte Transitverkehr der siebziger Jahre gehört endgültig der Vergangenheit an. Doch es gibt Umwege. Als Student beispielsweise hat man die Gelegenheit, mit der FDJ nach Polen zu gelangen und dort zu arbeiten. So wird der Sommer 1986 zum Sommer der sozialistischen Studentenhilfe. Die Gruppenunterkunft in der Nähe Warschaus wird von klerikal-polnischem Ungeist befreit, als ein FDJ-Sekretär endlich den Mut findet, ein über der Tür befindliches Marienbild umzuwenden. Nun herrscht Klarheit. An der Warschauer Universität läßt sich für die Kommilitonen im Blauhemd erstaunt feststellen, daß der hier geführte geisteswissenschaftliche Diskurs dem heimatlichen an der Humboldt-Uni um Jahre voraus ist. Und man lernt: Marek, der polnische Polier, erzählt bei der Arbeit, daß auch die Polen wie die Deutschen hassen könnten. Er hasse die Russen. Wenn ihn jemand in Russisch anspräche, würde er denjenigen mit Mißachtung strafen. Die Deutschen seien zwar gefährlicher und reicher als alle anderen, hassen würde er sie jedoch nicht. Jedenfalls nicht so wie die Russen.

Man ist versucht, ihm Glauben zu schenken, als ein Kollege wie zur Bekräftigung des Gesagten die rote Fahne an der Baubaracke mit einem Feuerzeug anzündet.

Nach drei Wochen Häuserbau im Städtchen Pruszkow, südöstlich Warschaus gelegen, steht für den Ökonomiestudenten im Nachbarbett fest: die gleichen Probleme wie daheim, adäquater Materialmangel, Nachschubprobleme und Transportausfälle. Kennen wir in Berlin, Hauptstadt der DDR, zur Genüge. An einem mit polnischen Freunden vertrunkenen Abend läßt auch der FDJ-Sekretär das Madonnenbild wieder gelten.

Im Frühjahr 1989 kann auf einer Jugendtourist-Reise die Kopernikus- Stadt Torun besichtigt werden. Die wirtschaftliche Lage Polens scheint sich in den letzten drei Jahren dramatisch verschlechtert zu haben. Die Touristen aus der DDR nehmen ihr Mittagessen in einer Großgaststätte ein. Am Nebentisch schlucken Rentner eine merklich dünne Suppe. Das Land atmet eine Lethargie, die man hier bislang nicht kannte. Etwas wird geschehen. Man weiß es und kehrt zurück. Die nun folgenden Monate bringen der DDR Massenflucht und zivilen Ungehorsam. Auch die Warschauer Botschaft der Bundesrepublik Deutschland meldet Flüchtlinge. Man wird nicht an die DDR ausliefern, heißt es in einem Bulletin. An der Oder-Neiße-Friedensgrenze patrouillieren die inzwischen verstärkten Grenzbrigaden.

Bei einem Ausflug nach Hohensaaten, das direkt an der polnischen Grenze liegt, bittet ein freiwilliger Mitarbeiter der Volkspolizei darum, den Kofferraum des auf dem Oderdeich abgestellten Autos kontrollieren zu dürfen. Der Kofferraum ist leer.

Wochen später wird auch die Grenze zum südlichen Nachbarn CSSR geschlossen. Nun ist überall Westen. Der realsozialistische deutsche Kochtopf ist hermetisch verriegelt. Er explodiert im Oktober. Nach den Botschaftsbesetzungen geht ein Dankschreiben Genschers unter anderem nach Warschau.

Das dritte Jahrzehnt

Das Jahr 1990 ist ein schnellebiges. Die Regierung Modrow geht. Dem schmächtigen Lothar de Maizière bleibt nun die weltgeschichtlich einmalige Aufgabe, seine Regierung einer geordneten Auflösung entgegenzuführen. Noch gibt es die DDR und ihr Aluminiumgeld. Der bundesdeutsche Begrüßungsschein im Wert von 100Deutschmark ist bei Kinobesuchen am Ku'damm ausgegeben worden. Zumindest geistig schwelgt man östlich der Elbe in Genüssen, die mit der anvisierten Währungsunion am ersten Juli materielle Realität werden sollen. Wer Verwandte in der Bundesrepublik hat, besucht diese einmal mehr. Man nimmt die Gelegenheit wahr, Deutschlands größeren Teil kennenzulernen. Daheim, in Ostberliner Lebensmittelläden, kommt es unterdes zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen Verkäuferinnen und polnischen Einkäufern. Irgendwo existiert die Anweisung, Massenabkäufe von Süßwaren und Gewürzen zu unterbinden. Egal, ob Pole, Russe oder Äthiopier, wer nicht die deutsche Sprache spricht, erfährt auch am Wurststand die barsche Aufforderung, seine Arbeitserlaubnis vorzuweisen. Die Supermarktangestellte-Ost hat Macht und wird zum Vollzugsorgan. Sie darf entscheiden, ob bei Herrn und Frau Tuchaszewski aus Krakow drei Bockwürste oder gar keine in Frage kommen. Wer sich als einheimischer Kunde über

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

solches wundert, kann schon von jemandem „Polackenfreund“ gerufen werden, der am Heck seines alt- neuen Ascona „Ein Herz für Kinder“ signalisiert.

Nach der Wiedervereinigung im Oktober fließt ein breites Konsumangebot in die östlichen Bundesländer. Schöne, neue Wörter wie „Schnäppchen“ verdeutlichen, daß es nun etwas zu erhaschen gilt. Der Warenfluß hat aber auch den Vorteil, daß man den polnischen Kunden am Tiefkühlregal gewähren läßt, weil die dänische Markenbutter morgen noch vorhanden ist.

Deutschland wird multikulturell. Die bettelnde Zigeunerin vor dem KaDeWe wird kultiviert ignoriert. Weniger Kultivierte raten ihr zur Arbeit. Die Zigeunerin lächelt dankbar und weiß nicht, daß sie jetzt Sinti oder Roma heißt. Die rechtsextreme Kultur gedeiht. Nach dem von Bundeskanzler Kohl realisierten Einreiseabkommen mit Polen im Sommer 1991 kommt es in Frankfurt/Oder zu einem kulturellen Höhepunkt: Skinheads bombardieren einen polnischen Reisebus mit Steinen. Ein Mädchen blutet an der Stirn. Ein Polizist meint, daß er die Polen auch nicht mag. Der Bus dreht ab und fährt zurück. Der Polizist wird irgendwann Beamter werden.

Mittlerweile gehen die Monate ins Land. Alte Ostpreußen fahren in die verlorene Heimat und bedauern den baulichen Zustand Elbings oder Allensteins. Auf ihrem Weg dorthin durchqueren sie desolate ostdeutsche Städte. Hier haben die Kommunisten alles vergammeln lassen, wird es bei einer Kaffeepause im komfortablen Luxusliner heißen. In Elbing waren es die Polen.

Einmal werden auch die neunziger Jahre Geschichte sein. Man wird Paris, London und Oberfranken besichtigt haben. Man wird die vom Arbeitgeber zugestandenen Urlaubstage dafür genutzt haben, sich an der Cala Ratiada oder auf Mallorca zu rekreieren.

Und man wird sich daran erinnern, daß, wann immer das Urlaubsgeld knapp zu werden droht, Schnäppchen den Sommer in einem Land billig werden lassen, das Polen heißt.