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Was geschah 1931 auf dem Bülowplatz?Ein anderer Genosse und ich...

■ Die NS-Anklage gegen Erich Mielke beugt das Recht. Dennoch könnte ihr sachlicher Kern der Wahrheit entsprechen. Dokumente aus dem KPdSU-Archiv beweisen die...

Ein anderer Genosse und ich... Die NS-Anklage gegen Erich Mielke beugt das Recht. Dennoch könnte ihr sachlicher Kern der Wahrheit entsprechen. Dokumente aus dem KPdSU-Archiv beweisen die Täterschaft Erich Ziemers, der sich nach dem Mord zusammen mit Mielke nach Moskau absetzte.

AUS MOSKAU GÖTZ ALY

Die Urkunde schien nebensächlich, die Verlesung überflüssig: Es handelte sich um eine kleinen Zeitungsmeldung aus der deutschen Emigrantenzeitung 'Pariser Tageblatt‘, erschienen während des Bülowplatz- Prozesses im Juni 1934. Gemäß dieser Meldung hatten sich im Exil die „wahren Täter“ der Bülowplatz- Morde bekannt. Eine entsprechende Erklärung war im damals noch nicht wieder deutschen Saarbrücken erschienen — sie trug die Unterschriften „Mielke“ und „Ziemer“.

Für die Verteidigung im derzeitigen Mielke-Prozeß, der Neuauflage des Bülowplatz-Prozesses von 1934, schien es einfach zu kontern. Der vorsichtige Stolz, mit dem der Vorsitzende Richter Seidel den Zeitungsartikel als sicher nicht NS-kontaminierte Urkunde in den Prozeß eingeführt hatte, verflog rasch: „Selbstverständlich“, wandte die Verteidigung ein, „haben die beiden das damals so gesagt, solche Erklärungen waren in der Geborgenheit des Exils nicht unüblich; so half man damals den Freunden und Genossen, die in das mörderische Räderwerk der NS-Justiz geraten waren.“ Mit den tatsächlichen Vorgängen habe eine solche Erklärung nichts zu tun.

Mit guten Gründen könnte man also auch weiterhin sagen: Die Nazi- Anklage ist und bleibt ein Kostrukt. Was an dieser Melange Dichtung und was Wahrheit ist, läßt sich heute nicht mehr überprüfen...

Irrtum. In Moskau lagern reichlich Akten zu dem, was die Kommunistische Partei „die Bülowplatz-Sache“ nannte: Ex oriente lux — wenn es denn so einfach wäre. Noch sind die Akten zum größten Teil gesperrt. Als der Berichterstatter vor acht Tagen im ehemaligen Parteiarchiv der KPdSU vorsprach, zeigte man sich beim Stichwort „Mielke“ nicht uninformiert. Doch kühlte die Freude über den — prinzipiell erwünschten— Westbesuch bei einigen Gesprächspartnern merklich ab, als wir das Thema näher erklärten. Nein, die Unterlagen der Kontrollkommission der Kommunistischen Internationale und die der Vertretung der KPD bei der Komintern könne man nicht vorlegen. Mal hieß es, solche Akten gebe es überhaupt nicht, mal, sie seien ungeordnet. Schließlich aber sagte man: „Wir können die Materialien nicht vorlegen, da es sich um eine außerrussische Angelegenheit handelt.“

Am Ende einigten wir uns auf die Einsicht in die schriftlichen Hinterlassenschaften der „Lenin-Schule“. Dort, in der Komintern-Schule zur Ausbildung von Berufsrevolutionären, wurde Erich Mielke 1932 bis 1934 zum kommunistischen Kader geformt — sein Deckname „Paul Bach“. Nach der Schüler-Personalakte „Mielke-Bach“ befragt, antwortete einer der Archivare nach längerem Suchen und Diskussionen im Hintergrund, sie sei nicht da — „KGB“, fügte er murmelnd hinzu. Dafür aber gab es die Personalakte „Ziemer“. Ihre Existenz im Aktenbestand „Lenin-Schule“ zeigt zunächst, daß Jochen v. Lang in seiner Mielke-Biographie (Rowohlt) wie an vielen anderen Stellen auch hier nicht den Fakten die Ehre, sondern seiner Phantasie freien Lauf gibt. Auf Seite 42 fabuliert v. Lang: „Warum er (Ziemer) und Mielke in der Sowjetunion nicht beisammen blieben, ist nicht bekannt. Ziemer verschwand dort spurlos wie viele andere unter Stalins Terrorregime.“ Tatsächlich blieben die beiden durchaus beisammen, besuchten gemeinsam die Lenin-Schule, zogen später beide in den Spanischen Bürgerkrieg, wurden beide Politkommissare. Ziemer fiel Mitte November 1937 in der Nähe von Albacete. An der Lenin-Schule und in Spanien trug er den Decknamen „Georg Schlosser“.

Neben diesen Angaben finden sich in der Personalakte „Ziemer- Schlosser“ drei handgeschriebene Lebensläufe. Ziemer äußert sich darin auch zum Thema „Bülowplatz“ — und das in der Zeit vor dem Beginn der Nazi-Ermittlungen.

Ziemer am 6.März 1932: „August 1929 wurde ich zu den P.S.S.-Gruppen [= Partei-Selbstschutz] im U.B. Nord [= Unterbezirk Wedding-Reinickendorf] zugezogen. Ende 1930 wurde ich dort Leiter einer Normalgruppe (5 Mann). Wir führten die übl. Arbeit der Gruppen durch (Selbstschutz, K.-L.-Haus-Wache [= Karl-Liebknecht-Haus], Demonstrationen, einz. Aktionen, Waffenreinigung und -transport usw.). Letzte Aktion Bülowplatz. [...] Wegen der Bülowplatzgeschichte wurde ich von der Partei vorsichtshalber nach der S.U. geschickt. [...] Die Hauptangaben dieses Lebenslaufes kann Genosse Hans Kippenberger, M.d.R., bestätigen.“

Ziemer am 28.April 1933: „Im Aug.1931 mußte ich als Politemigrant nach der Sowjetunion. (Darüber nähere Auskunft durch die Vertretung der KPD bei der Komintern.)“

Ziemer im Entwurf zum Lebenslauf vom 6.März 1932: „Schon im August 1929 wurde ich zur Terrorgruppenarbeit zugezogen. Ich lernte dort über Pistolen (08, Ortgics [=Ortqis], Mauser), Gewehr 98. Die Arbeit war: Schutz von Versammlungen und Demonstrationen, Waffen- u. Munitions-Reinigung und Transport, Wachen im K.-L.- Haus, einzelne Kampagnen usw. Ende 1930 wurde ich Gruppenführer einer Normalgruppe von 5 Mann. Meine letzte Arbeit für die Gruppe war die Bülowplatzsache, die ein anderer Genosse und ich zusammen ausführten.“

Vor dem Hintergrund dieser Dokumente wird klar, daß die Selbstbezichtigung von Mielke und Ziemer während des Bülowplatz-Prozesses im Jahr 1934 zumindest im Fall Ziemer den Tatsachen entsprach. Naheliegend ist, daß sich in der Personalakte, die die Lenin-Schule für Erich Mielke führte und die es aller Wahrscheinlichkeit nach noch gibt, ganz ähnliche Lebensbeschreibungen finden werden. Klar ist auch, daß die gesamte von Ziemer so genannte „Bülowplatzgeschichte“ in der Komintern bestens bekannt und sicher auch umfangreich diskutiert worden war. Darüber existieren mit Sicherheit Unterlagen.

Die Dokumente, die jenseits der Nazi-Anklage Aufschluß über den 9.August 1931 geben können, liegen in Moskau. Egal wie der gegenwärtige Prozeß endet, egal ob sich Erich Mielke zu einer Aussage bequemt oder nicht, in einigen Jahren, vielleicht schon in einigen Monaten, wird man wissen, wer der zweite Schütze war, der den politischen Mord an den Polizeioffizieren Lenck und Anlauf zusammen mit Ziemer ausführte, wer diesen Mord plante, und wie sich die Akteure später rechtfertigten.

Hellsichtig analysiert Carl von Ossietzky 1931 die politische Wahrheit des 9. August. Er bezweifelte, daß man die faktische Wahrheit jemals erfahren würde. Tatsächlich ist es heute, über 60 Jahre später, zum ersten Mal möglich, die mittlerweile historische Wahrheit herausfinden. Sie ist interessant und wichtig: jenseits aller rechtlichen Bedenken, die weiterhin gegen das Mielke-Verfahren einzuwenden sind.

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