Vergangenheit vor dem Richterstuhl

■ Diskussion um Strafrecht oder Tribunal

Berlin. »Des Denkens Faden ist zerissen, mir ekelt lange vor allem Wissen.« Das Faust-Zitat stand auf einem Schreibpult in der Humboldt-Uni. Auf jüngere deutsche Geschichte übertragen, bedeutet dies: Die Geschichte Geschichte sein lassen und die Stasi-Akten wieder schließen. Dem Ekel zu trotzen, hat sich dagegen das »Forum zur Aufklärung und Erneuerung« entschlossen, das gestern in Leipzig von ostdeutschen Bürgerrechtlern gegründet worden ist.

»Das Strafrecht allein kann mit dem begangenen Unrecht nicht fertig werden«, begründete der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) seine Initiative am Freitag abend bei einer Diskussionsveranstaltung in der Humboldt-Uni, »aber man kommt auch nicht an ihm vorbei.« Damit wies er das Motto der Diskussion von sich, zu der die Grünen/AL und Bündnis 90 geladen hatten: »Vergangenheit vor dem Richterstuhl: Strafrecht oder Tribunal?«. Ullmann erklärte, daß sich die beiden Dinge nicht ausschließen dürften, sie bedingten sich gegenseitig. Angesichts der Gerichtsprozesse, die schon stattgefunden hätten, gab Ullmann zu bedenken, müsse man sich fragen, ob »es wirklich so laufen solle«. Er lehnte jedoch jegliche Opportunitätsgedanken an Gerichtsprozesse ab: »Wir dürfen nicht darüber philosophieren, was bei einem Prozeß gegen Honecker herauskommen würde.« Es komme darauf an, nachgewiesenes Unrecht nicht auf sich beruhen zu lassen.

Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne im Abgeordnetenhaus, bezeichnete dagegen die Bewältigung der Vergangenheit vor dem Richterstuhl als einen Irrweg: »Strafprozesse werden neue Ungerechtigkeiten schaffen und einen faden Beigeschmack hinterlassen«. Prozesse würden eingestellt und viele Erwartungen enttäuscht werden. Zudem könnten Gerichte keine historische Wahrheit herausfinden, sondern nur eine Wahrheit gemäß der Strafprozeßordnung. »Ich sage voraus, daß das böse ausgehen wird«, sagte die Rechtsanwältin.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Angelika Barbe betonte dagegen ihr Vertrauen in den Rechtsstaat: »Es gibt durchaus Möglichkeiten, durch das geltende Strafrecht die Verstöße gegen DDR-Gesetze zu ahnden.« Nicht nur die Verletzung des Brief- und Telefongeheimnises, der ärztlichen und anwaltlichen Schweigepflicht seien in der DDR ein Straftatsbestand gewesen, sondern auch die Verletzung des Menschen- und Völkerrechts, sagte die Ostberlinerin.

Armin Mitter vom Unabhängigen Historikerverband hält dagegen das Strafrecht nur in gewissen Fällen für ausreichend. Zwar forderte er ebenfalls eine gesellschaftliche Auseinandersetzung in breitem Rahmen, doch findet er den Zeitpunkt des »Forums« zu früh angesetzt, da die historische Aufarbeitung noch nicht weit genug fortgeschritten sei. Die Folgen wären fatal: »Die Täter können entscheiden, was sie von ihrem Wissen preisgeben wollen; die Opfer dagegen können nur moralisch argumentieren und ziehen den kürzeren.« lada