PRESS-SCHLAG
: Wie im Märchen

■ Borussia Dortmund, das niedliche Team zum Liebhaben, verzaubert und betört seine Fans

Ist Stephane Chapuisat einer von den sieben Zwergen? Rotbäckig wie der Apfel aus dem Wilhelm Tell, ewig die Haare zerzaust und vor allem im schnellen Lauf etwas kurzbeinig? Eine mir gut bekannte Blondine, Besitzerin einer Dauerkarte für die Südtribüne des Westfalenstadions, jedenfalls behauptet das.

Man darf diese Erkenntnis nun keineswegs wahllos auf die ganze Mannschaft von Borussia Dortmund erweitern. Der Fan weiß beispielsweise, daß Michael Schulz für die Rolle des Zwerges weniger geeignet ist und trotz seiner langen Locken auch als Schneewittchen nicht durchginge. Worum es dem Dortmunder Fan vielmehr geht: daß dies eine Mannschaft zum Liebhaben ist. Mit den Biene-Maja-Ringelsocken (wie der ehemalige Bösewicht Michael Rummenigge, Vater zweier kleiner Söhnchen, immer so schön sagt) und den surfigen amerikanischen Trikots und Hosen, deren gelbe, dicke Streifen das Gesäß so sympathisch breit aussehen lassen. Und Stadionsprecher Bruno Knust ist Intendant eines Dortmunder Puppen- uhd Kabarett-Theaters. Seine Handpuppe „Günna“ (für Nicht-Westfalen: Koseform von Günter) zieht samstags im WDR-Fernsehen immer über einen gewissen Gelsenkirchener Klub her.

Das also ist der wesentliche Unterschied zu den Meisterschaftskonkurrenten Frankfurt und Stuttgart, deren Machenschaften und Typen an die Welt der Wirtschaftsverbrechen, an Dallas und Denver erinnern, statt an die Gebrüder Grimm. Das Gute wird siegen, sagen sich Dortmunds unerschütterliche Fans, deren neuester Coup es war, klammheimlich, nach Heinzelmännchenmanier, sämtliche Karten für das letzte Saisonspiel im Duisburger Wedaustadion aufzukaufen.

Nun klammern sich notorische Frankfurt-Anhänger an die Hoffnung, Fußball werde letztlich auf dem Rasen entschieden. Michael Rummenigge, am Freitag abend beim 1:1 in Hamburg verletzt ausgefallener Chefdenker der Borussen, setzt diesen beiden Theorien eine dritte entgegen: „Über Sieg und Niederlage“, sagt er, „wird heutzutage im Kopf entschieden.“ Was Trainer Ottmar Hitzfeld, gelernter Studienrat für Mathematik, nur bestätigen kann.

Das ist neu im Ruhrgebiet, wo der Wille, die Ärmel aufzukrempeln, historisch stärker entwickelt ist als die Bereitschaft, die Mütze zum Nachdenken abzunehmen. Als unlängst Andy Möller und Dortmunds Libero Thomas Helmer im Aktuellen Sportstudio des ZDF zur Befragung saßen, registrierte nicht nur Rummenigge: „Der Möller wirkte gegen Helmer wie ein dummer Junge.“ Nun war lange Zeit die gängige Meinung, daß, je doofer einer ist, um so besser. Es zeigt jedoch das Beispiel Wegmann („Ich bin mentalmäßig übergalaktisch drauf“), daß solche Typen nicht mehr modern sind.

Statt dessen freuen sie sich in Dortmund, wo Montan gerade von Mikrochip und Schwerstarbeit von Dienstleistung verdrängt wird, wenn die Jungs im Fernsehstudio wie die Hochschulabgänger daherparlieren, aussehen wie die sieben Zwerge oder Jason Donovan und auch sonst den neuen Mittelstands- Stolz der Stadt rüberbringen. Der normale Hauptschüler, so ein Spezialist für Fußballer-Biographien, findet in Dortmund nicht mehr statt.

Das sei der Grund, warum Jürgen Wegmann bei Mannschaftssitzungen immer einen Dauerlutscher kriegen würde, wenn die anderen den neuesten taktischen Raffinessen ihres in der feinen Schweiz sozialisierten Trainers lauschen. Bei fast jedem Spiel der Borussen ist dann zu beobachten, daß sie niedlich aussehen, es aber faustdick hinter den Ohren haben: Kollektiv variieren die Dortmunder ihren Spielrhythmus, schalten von Gegner-Einschläfern auf Preßdeckung, von Powerplay auf Ballgeschiebe. Statt auf den Genius einiger Ballzauberer zu setzen (wie Frankfurt) oder auf den wilden Blick des Trainers (Stuttgart), lösen die Borussen spielmathematische Aufgaben.

Nichtsdestotrotz hauen Spieler wie Helmer, Zorc, Franck, Karl, Schulz, Kutowski, Lusch oder Povlsen in den Zweikämpfen dennoch unerbittlich dazwischen. Westfälische Eichen bleiben westfälische Eichen. Frankfurt sollte sich nicht täuschen lassen: Auch Chapuisat, der Mittelstürmer, sieht nur niedlich aus — aber er hat schon 15 Tore gemacht. Sein letzter Gegenspieler, Matysik vom HSV, soll seit Freitag in Behandlung sein. Diagnose: Bewußtseinsstörungen und verdrehte Hüfte. Freddie Röckenhaus