Gut erhaltene Objekte

■ 250 Jahre alte Kriminalgeschichten

Wer die Galgenblüten aus purer Vergnügungssucht liest, kommt allemal auf seine Kosten: wüste Kriminalgeschichten aus dem 18.Jahrhundert, die allesamt die schlimmstmögliche Wendung genommen haben. Wir hören Geschichten vom beliebten Sport des Gattenmords, von Psychopathenmorden, vor allem aber Kuriosa aus dem rauhen Klima von Gay/Pepuschs Beggar's Opera (beziehungsweise der neueren Dreigroschenoper-Variante). Da gab es Banden, die Kopfgeld mit Denunziation verdienten; Grabräuber, genannt „Auferstehungsmänner“, die Leichen für Anatomieschulen beschafften — und in Streik traten, um einen Vorschuß zu erreichen, da „gut erhaltene Objekte heutzutage immer seltener würden, weil die Leute in der Regel ebenso verrottet stürben, wie sie nun einmal gelebt hätten“; und einen rührenden Piratenhaufen mit einem Anti-Flynn als Anführer.

Die absurdeste Geschichte ist wohl die der Mary Hamilton; sie heiratete vierzehn (!) Frauen (!!) und wurde „eingesperrt und durchgepeitscht im gestrengen Winter des Jahres 1746“, obwohl's für ihr Verbrechen keinen Paragraphen gab. Die 14. Ehefrau, als Belastungszeugin, ist „stets der festen Überzegung gewesen, einen Mitmenschen des richtigen und passenden Geschlechts geheiratet zu haben“.

Der Witz an diesen Texten ist ihre Authentizität: Der Herausgeber des Bandes, Frank T. Zumbach, liefert hier die erste deutsche Teilausgabe des Newgate-Calendars, der in zahlreichen Ausgaben und Überarbeitungen in den Jahren nach 1719 erschien. Es sind Geschichten, die leider nur deshalb überliefert werden konnten, weil alle MissetäterInnen gefaßt wurden. In seiner Einleitung umreißt der Herausgeber die Geschichte des Newgate-Gefängnisses nebst diverser hinrichtungswissenschaftlicher Details und des allgemeinen sozialgeschichtlichen Hintergrundes. Das alles zu einem Spottpreis. Mindestens so amüsant wie die berichteten Fälle, dann aber doch auch ein bißchen widerlich, sind die streng-betulichen Exkurse der Aufzeichner des Kalenders; ihr Schwanken zwischen Sensationsgeilheit und Entrüstung ist mit Händen zu greifen, auch eine recht zeitgemäße Erscheinung. „Aber vielleicht läßt sich doch eine Moral daraus ziehen, nämlich daß der Teufel, der zur Abwechslung die Gestalt jener mörderischen ,Diebesfänger‘ annahm, stets ein Auge auf junge Müßiggänger hat und sich selten nur an fleißigen Lehrlingen und rechtschaffenen jungen Männern vergreift, die auf den Rat ihrer Eltern hören.“ Sven Hanuschek

Galgenblüten. Aus dem Newgate Calendar gepflückt, ins Deutsche überführt und eingeleitet von Frank T. Zumbach. Haffmans Taschenbuch, 216Seiten, 12Mark.