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INTERVIEW„Sie schossen von allen Seiten auf uns“

■ Mesut Uysal, Rechtsanwalt in Sirnak und Vorstandsmitglied der „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP), über das gewalttätige Vorgehen der Sicherheitskräfte in Kurdistan

taz: Herr Uysal, wie kam es zu dem Massaker in Sirnak?

Mesut Uysal: Seit Tagen schon hatte es zur Vorbereitung der Newroz-Feiern Treffen der politischen Kräfte gegeben. Funktionäre der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, der „Arbeitspartei des Volkes“, Gewerkschafter, die Mitglieder des Stadtrates und die Dorfvorsteher waren zusammengekommen. Wir riefen die Bevölkerung auf, während der Feiern Ruhe zu bewahren, um Ausschreitungen zu verhindern. Auf dem „Platz der Republik“, dem einzigen Platz, wo der Schnee geräumt wird, sollte am Samstag morgen das Neujahrsfest gefeiert werden. In unserer Stadt gingen Zehntausende auf die Straße. Aus der Region westlich der Stadt kamen etwa 5.000 Menschen. Sie durchbrachen die Polizeibarrikaden, die ihren Weiterzug verhindern wollten, und kamen am Platz an. Ich sah, wie die Einsatzleiter per Funk Befehle einholten. Und plötzlich wurde von allen vier Seiten auf uns geschossen. Auf den Gebäuden der Stadt hatten die Soldaten und Polizisten Stellung bezogen. Sie schossen auf alles, was sich bewegte.

Und wie war die Situation nach den Schüssen?

Überall Tote und Verletzte. Viele sind an Blutverlust gestorben. Meine Tante, Zeynep Uysal, beispielweise starb in unseren Armen, weil wir keine Ambulanz oder ein Auto bekommen konnten. Denn die Sicherheitskräfte schossen auf jedes Fahrzeug. Es war einfach nicht möglich, die Verletzten in die umliegenden Krankenhäuser zu transportieren. Einer, der es versuchte, rettete sich im Kugelhagel in mein Haus. Dabei mußte er einen Verletzten in seinem Auto zurücklassen. Ich kann mit größter Gewißheit sagen, daß es in Sirnak mindestens 20 Tote gibt, darunter viele Frauen und Kinder.

Gehen Sie davon aus, daß die Sicherheitskräfte das Ganze inszeniert haben?

Wir haben einen Tag vor Newroz versucht, die Verantwortlichen zu erreichen. Der Polizeipräsident und auch der Gouverneur ließen sich verleugnen. Ich bin fast sicher, daß irgend jemand den Befehl erteilt hat, das Newroz-Fest zum Anlaß zu nehmen, mit Gewalt gegen die Kurden vorzugehen. Hätte man die Leute in Ruhe ihr Fest feiern lassen, es wären vielleicht hier und da kurdische Flaggen gehißt und Parolen skandiert worden. Ein Blutbad wie dieses wäre aber verhindert worden.

Der Innenminister und der Gouverneur behaupten, es hätten sich in der Menge Bewaffnete befunden, die das Feuer auf die Soldaten eröffneten...

Sie lügen. Die Mehrheit derjenigen, auf die das Feuer eröffnet wurde, waren Frauen und Kinder. Sie hatten noch nicht einmal Steine auf die Polizisten geworfen. Es gibt in Sirnak keinen einzigen toten Polzisten. In Sirnak vollzog sich ein Massaker. Unser Fest wurde in Trauer erstickt. So sieht die neue Großzügigkeit gegenüber den Kurden aus, von der die Regierenden in Ankara immer wieder reden. Nach diesem Blutbad hat der türkische Staat seine letzte Chance vertan, die Bevölkerung Kurdistans zu gewinnen. Interview: Mustafa Gürbüz

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