Geliehene Stimmen

■ Udo Samel und Alan Marks mit »Ich hab' im Traum geweint« am Deutschen Theater

Das Purimfest, bei dem die Errettung der persischen Juden unter Xerxes vor dem Gemetzel des Königsgünstlings Haman durch Ester gefeiert wird, ist der äußere Anlaß für die Wiederaufnahme des Stücks Ich hab' im Traum geweint am Deutschen Theater. »Stück« ist eigentlich nicht ganz richtig. Es handelt sich eher um eine Art Gottesdienst für Agnostiker, ein Purimfest für die Zeit nach dem Holocaust.

Udo Samel und Alan Marks betreten die Bühne, wie man eine Synagoge oder — wenn die verbrannt ist— ein Wohnzimmer betritt, das zum sakralen Raum wird: gemächlich, konzentriert, aufeinander bezogen. Die Bühne ist umrahmt von Weingläsern, hoch an der Decke hängen schwarze Vorhänge, wie Fallbeile, Kerzen flackern im Luftzug, und wenn dann die Töne erklingen, die entstehen, wenn man sanft über Glas fährt, bedarf es eigentlich gar keines Wortes mehr, eine Atmosphäre von Zerbrechlichkeit, Bedrohung und suchender Erinnerung herzustellen. Samel liest, von Marks mal kontrapunktisch, mal untermalend auf dem Klavier begleitet, aus dem Buch Ester, das mit der blutigen Rache der Juden an ihren Peinigern endet. Aus Goethes Gedichten, für Kriegszeiten gewendet: »Die Vöglein schweigen im Walde/ Warte nur, balde/ ruhest du auch.«

Worin genau Samels Kunst besteht, wurde mir aber erst klar, als er Hölderlins Mnemosyne las, eine Totenklage auf der Schwelle zur Moderne, kurz bevor der Glaube an die Gerechtigkeit des Himmels endgültig begraben wurde:

Ein Zeichen sind wir, deutungslos

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde

verloren...

Samel tritt hinter die Texte zurück, er deklamiert nicht, sondern läßt sie sprechen; er deutet sie nicht, sondern erforscht sie lesend, sprechend und läßt die Zuschauer an diesem Prozeß teilhaben.

Der braucht kein Biermannsches Geschrei, damit seine Stimme klingt, als würde er aus dem Exil herüberrufen. Damel maßt sich nie an, einen Verfolgten zu verkörpern, aber er leiht deren Texten seine Stimme und verlängert dadurch das individuelle Schicksal ins Allgemeine; wenn man sieht, wie er ein Buch hält oder wie der seine Füße beim Lesen nebeneinanderstellt, denkt man, man hat den Menschen schlechthin vor sich.

Mit dieser Art der Darstellung ist ein wichtiger Punkt in der Diskussion unter den Überlebenden des Holocaust berührt. Er dreht sich um die Frage, wie der Opfer zu gedenken ist: Die einen meinen, man solle sich auf den Holocaust als singuläres Ereignis beziehen, die anderen argumentieren, gerade damit würde man die »Arbeit« der Nazis vollenden und die jüdische Kultur vollends auslöschen. Statt dessen müsse man an die Tradition anknüpfen, die jede Katastrophe in der jüdischen Geschichte mit der vorhergehenden verbindet: die Zerstörung des Zweiten Tempels mit der des Ersten, die Chmielnicki- Pogrome im Polen des 17. Jahrhunderts mit den Rheinlandmassakern durch die Kreuzritter im 12. Jahrhundert. Die wichtigsten jüdischen Feste kreisen um diese Form der Erinnerung; besonders das Pessachfest macht deutlich, daß sich das jüdische Volk quasi durch die Erinnerung konstituiert.

Kritiker dieser Tradition monieren, daß dabei das Spezifische des Holocaust untergeht — eine Parallele zum Historikerstreit in der Bundesrepublik. Die Einladungen zu Familienfesten, die manche Orthodoxe heute noch an ihre Verwandten nach Auschwitz schicken, sind ebenso Ausdruck dieser Schwierigkeit wie das Güterzug-Mahnmal auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße.

Udo Samel und Alan Marks haben eine angemessene Form gefunden, diesem Dilemma zu begegnen: Während Marks den Wein aus jedem einzelnen Glas ausgießt, das am Bühnenrand steht, liest Samel einzelne Namen: Bernhard Herzberg, Kaufmann; Sarah Schulmann, Lehrerin; Isaak Stein, Gärtner... So blieb beides gewahrt: das Ritual der Trauer und das Individuelle im Allgmeinen. Mariam Niroumand