Ein Spaziergänger im Wind des Zeitgeistes

■ Anekdoten und Histörchen: Der Verleger Johannes Gachnang sprach über die Kunst der Alten für eine neue Generation in der Galerie Bruno Brunnet

Vom Kunststudenten bis zum Künstlerphilosophen waren wirklich alle gekommen, um einem Mann um die Fünfzig zuzuhören. Der hatte versprochen, sich an die Zeit zu erinnern, als Kunst noch modern war und manchmal sogar Spaß gemacht haben soll.

Was Johannes Gachnang zu erzählen wußte, bestand dann in der Tat aus einem knappen halben Dutzend hübsch eingepackter Bildergeschichten, die der Lebemann und Ausstellungsmacher aus der Schweiz mitunter dezent spöttelnd entfaltete: Anekdoten über den Anfang der Moderne, das Debakel deutscher Metropolenkultur, Histörchen von wundersamen Wegelagerern und »raffinierten Hunden«, die mit Picasso im Geiste, gegen den »Wind des Zeitgeistes«, wie ihn Kritiker allerorten erzeugen, anpusteten. Heldensagen aus der Kneipe oder dem Atelier, die der Alltäglichkeit wegen die Wirklichkeit unserer Museumswelt ausmachen. Dazu braucht es langen Atem und trockenen weißen Wein.

Gründe für solcherlei Ausflüge zu den modernen alten Meistern (von Rückgriem bis Richter) gibt es zuhauf. Das Personenregister der diesjährigen documenta 9 umfaßt allzuviele Unbekannte, die einschlägigen Gazetten reden vom Historischwerden der Kunst, den Theoretikern ist die Freude am Schein verlorengegangen und der jungen Künstlergeneration die Perspektive. Sollte Kunst noch schneller abgedankt haben als andere Wissensformationen wie Religion, Philosophie und Kommunismus?

Das entscheidende »Nein« zögert Herr Gachnang während des ganzen Vortrages hinaus, indem er ständig Stellvertreterkriege am Werk sieht. So setzt er die Geburtsstunde der Moderne mit dem fröhlich geschwungenen Pinsel des Henri Rousseau gleich, jenem Neo-Primitiven, dessen »Andersartigkeit« von der Kritik zuerst verschmäht wurde, obwohl ihn Picasso liebte, weil er »die Tagträume der Straße lebte«. Nun säße das Vorbild aller (im übrigen mißverstehenden) Sonntagsmaler dort am Wegesrand, wo die Apotheose die späteren Helden der Kunstgeschichte vorbeigeführt hätte; »aber eine poetische Metapher bringt uns nicht weiter«, räsonniert der Mann aus Bern, wohl wissend, daß die von ihm mitorganisierte und -verantwortete Großveranstaltung Bilderstreit 1989 bereits die tiefe Kluft zwischen argumentativen Kunstkritikerstrategien und dem guten Geschmack der alten Männer aufgedeckt hatte.

Doch Johannes Gachnang will sich auch im Jahre eins nach Jeff Koons' bergkristallenen Fickstudien den Kunstgenuß nicht verderben lassen. Seinerzeit gab es noch »Topless Go-go-Bars«, an die er sich in einem früheren Text über das New Yorker Künstlerunikum William N. Copley erinnerte. Gachnang beharrt weiterhin auf Kunst, die aus dem Bauch kommt. Doch genau mit diesen Vorstellungen entgleitet der Vortrag seiner vermittelnden Funktion im vermeintlichen Generationskonflikt. Der sich ausbreitenden Hysterie, in der Markt und Macher um den Stillstand rotieren, begegnet der Liebhaber aus der Schweiz mit einer prosaischen Mischung aus gutgemeintem Humanismus und exquisitem Humor. Den Verdacht der »Veteranenmystik« will er rhetorisch abschmettern, produziert selbige jedoch unaufhörlich — in Künstleranekdoten über Beckett, Joyce oder Klossowski.

Auch sie entstammen dem Prozeß der Archivierung, der sich schonungslos über die Künste ausbreitet. Einzig der von Gachnang beklagte Gegensatz von Geschwindigkeit und Geborgenheit vermag zu greifen. Die Technokraten sind an allem schuld. Sie beschleunigen die Diskussion bis zu einem Punkt, an dem Kunst im Rauschen des Blätterwaldes verschwindet. Dort vermag der Spaziergänger Gachnang mit den Jetset-Zirkeln der Kulturmanager nicht mehr Schritt zu halten.

Wie sollte er auch? Langsam neigt sich der Vortrag dem Ende zu. Man soll der Jugend vertrauen, »die Schlüssel« in ihre Hände legen, mit denen sie »die Geheimnisse« (zu) erschließen wissen, sollen, werden, können... Später gehen die Älteren mit den Älteren, die Jüngeren mit ihresgleichen, wenn auch einige Jüngere noch auf eine Zigarettenlänge bei den Alten stehen, der Tradition verbunden, dem Neuen aufgeschlossen und der Mitte gegenüber offen. Im nächsten Monat wird Mastermind Diedrich Diederichsen reden. Eigentlich auch nicht mehr der Jüngste. H. Fricke