Arbeiter fürchten Vertreibung aus dem Kiez

■ Bei den vergangenen Wahlen drohte der »rote Wedding« braun zu werden/ Türkische Gangs halten dem Bezirk Skins vom Hals

Wedding. Die Autos schießen mehrspurig vorbei, fünf große Straßen treffen aufeinander, zur Linken vermitteln die Betonkolosse der Schering AG die geballte Macht der Pharmaindustrie, zur Rechten sind Mietskasernen wenig einladend. Willkommen im Wedding, an der U- Bahn-Station am Platz gleichen Namens.

Doch nicht überall vermittelt der alte Arbeiterbezirk das Gefühl, am besten sofort wieder abzureisen. Gerade in den weniger leicht zu findenden Winkeln entwickelt der Wedding seinen ganz eigenen Charme, frei von großstädtischer Arroganz. »Der Wedding will entdeckt sein«, weiß auch der Bürgermeister Jörg- Otto Spiller (SPD). Er hofft, daß die erneute Mittellage »den Wedding für moderne Dienstleistungsbetriebe interessant« mache.

Nicht so modern, aber von den Bürgern des Weddings und Reinickendorfs geliebt, ist die Markthalle in der Nähe des Leopoldplatzes, dem bunten und vielfältigen Einkaufszentrum. Sie zeichnet sich vor allem durch die vielen kleinen Händler aus, die das Markttreiben verursachen. Die Betreiber der Halle verfügen über einen Erbpachtvertrag bis ins Jahr 2042. Nun zieht ein Discount- Markt ein, und Wirtschaftsstadtrat Horst-Dieter Havlicek (CDU) erklärte jüngst den Bezirksverordneten, daß der Betreiber die Halle nur bis zum Ende des Jahrzehnts in seiner jetzigen Form weiterführen wolle. Die Bezirksamtsmitglieder fühlten sich übergangen, Sozialstadtrat Hans Nisble forderte eine Sondersitzung noch während der BVV.

Ärger unter den Bezirkspolitikern gibt es zur Zeit auch um die Kinderfarm und den Abenteuerspielplatz im sogenannten »Grünen Dreieck« an der Luxemburger Straße. Seit Jahren versucht die CDU, die außergewöhnlichen Kindereinrichtungen zu vertreiben; die Lage ist günstig und Bauland wie überall Mangelware. Neuestes makaberes Deckmäntelchen ist eine angebliche Bodenbelastung. Doch der AL-nahe Gesundheitsstadtrat Dr. Werner Gotzmann befürchtet, daß die Freizeitflächen einfach verschwinden sollen: »Hier soll aus dem grünen Dreieck das Bermuda-Dreieck gemacht werden.«

Verschwunden ist auch die Mauer, doch wo sie stand, wird jetzt gestritten: Die Bernauer Straße ist ein heißer Zankapfel, denn ein Mauermuseum, eine Straßenbahn mit eigener Trasse und der autogerechte Ausbau sind Pläne, die sich nicht gemeinsam verwirklichen lassen.

Doch die Probleme, die gerade vor der Wahl von den Parteien diskutiert werden, betreffen immer nur einzelne Teile der Bevölkerung, sie sind nicht Thema auf der Straße. Dort beherrschen die Wohnungsnot und der katastrophale Zustand vieler Häuser die Gespräche. »Gemessen an den Mißständen liegt der Wedding vor Kreuzberg auf dem vorletzten Platz in West-Berlin«, erklärt Remzi Uyguner vom Büro für stadtteilnahe Sozialplanung (BFSS). Zahllose Wohnungen haben keine Toilette, Heizung oder Bad. Wenn die Sanierung aber nicht öffentlich gefördert werde, so Uyguner, stiegen die Mieten nicht mehr kontrolliert, sondern explosionsartig; Folge wäre die »Vertreibung der Mieter aus ihrem Kiez«. Da viele der Häuser noch aus der Hochphase der Industrialisierung stammen, die im Wedding ein wichtiges Standbein hatte, ist der Umgang mit Bausubstanz seit Jahrzehnten ein prägendes Thema. Die Mietskasernen mit ihren lichtlosen Hinterhöfen wurden in den 60er Jahren großflächig abgerissen und durch Neubauten mit viel Grün ersetzt. Ergebnis der Kahlschlagsanierung waren zwar moderne Häuser, aber auch gänzlich zerrissene Sozialstrukturen. Erst langsam setzte sich die Erkenntnis durch, daß eine behutsame Sanierung den Erhalt der Häuser und deren Modernisierung im Blickfeld haben müsse. Gerade um den Nettelbeckplatz und an der Liebenwalder Straße lassen sich positive Beispiele finden.

Rot ist der Wedding schon lange nicht mehr, von einer Arbeiterbewegung ganz zu schweigen. Vielmehr hatten die Bürger den beiden großen Parteien regelmäßig jeweils rund 40 Prozent beschert, der AL etwa 10 Prozent. Doch in den vergangenen Jahren wuchs der Unmut über soziale Ungerechtigkeit, die Bonner Politik hinterließ im Wedding einen äußerst schalen Beigeschmack. 1989 erhielt die CDU nur noch 29 Prozent der Stimmen, die SPD kletterte auf 47,5. Mit der Wahl zogen auch die Reps mit 9,6 Prozent in die Versammlung der Bezirksparlamentarier ein und holten den Wedding auf traurige Art aus seinem politischen Schattendasein. Deutschland blickte in den Norden, wo nun ein »brauner Wedding« befürchtet wurde. Doch für die kommende Wahl wird den Rechtsextremen kaum eine Chance zugesprochen.

Von Skinheads ist der Wedding weitgehend frei, auch wenn das keineswegs auf besonders aufgeschlossene Deutsche zurückzuführen ist. Vielmehr haben die türkischen Jugendlichen eine Infrastruktur aufgebaut, mit der binnen einer halben Stunde problemlos hundert junge Männer mobilisiert werden können. Allen voran die berüchtigten Black Panthers vom Nauener Platz beherrschen die Jugendgang-Szene im Wedding, Skins trauen sich dort nicht mehr hin.

Die Mischung verschiedener Kulturen ist im Wedding fraglos ein entscheidendes Thema, das aber bei den großen Parteien kaum Beachtung findet. Schließlich wird Ausländern auch am 24. Mai kein kommunales Wahlrecht zugestanden. Christian Arns