»Stundenerhöhung ist Tarifbetrug«

■ Der Berliner GEW-Vorsitzende Erhard Laube begründet in der taz, warum die GEW trotz »Kompromißlösung« und Zwangsgeldandrohung am morgigen Lehrerstreik festhalten wird

Wenn morgen Tausende von LehrerInnen im Westteil der Stadt keinen Unterricht erteilen, greifen sie damit zu ihrem letzten Mittel, um gegen die Politik der Arbeitszeitverlängerung nach preußischer Obrigkeitsmanier von Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) zu protestieren. Im Ostteil der Stadt wird an circa 50 Schulen gestreikt für die Aufnahme von Tarifverhandlungen zur Regelung der Pflichtstunden und zum Rationalisierungsschutz, womit Kündigungen mangels Bedarf vertraglich verhindert werden sollen.

Als 1988 im gesamten öffentlichen Dienst die Arbeitszeit von 40 auf 38,5 Stunden reduziert wurde, beschloß schon die CDU/FDP-Koalition unter Diepgen, auch die Lehrerinnen und Lehrer daran zu beteiligen. Wie alle anderen Beschäftigten mußten auch die LehrerInnen diese Arbeitszeitverkürzung durch jahrelange Lohnabschlüsse unter der Teuerungsrate selbst finanzieren. Heute soll für LehrerInnen als einzige Beschäftigtengruppe im gesamten öffentlichen Dienst die damalige Arbeitszeitverkürzung wieder rückgängig gemacht werden. Deshalb bezeichnen wir die jetzige Arbeitszeitverlängerung als Tarifbetrug.

Schulsenator Klemann wagt nicht zu behaupten, Lehrerinnen und Lehrer arbeiteten zuwenig. Denn er weiß, daß alle seit 1958 in Auftrag gegebenen Untersuchungen belegt haben, daß die Gesamtarbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern auch unter Berücksichtigung der längeren Ferien bei über 40 Wochenstunden liegt, egal, ob der Auftraggeber dieser Untersuchungen die Gewerkschaft oder die Kultusminister selbst waren. Klemann ignoriert, daß zur Gesamtarbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern nicht nur die Unterrichtsverpflichtung, sondern Korrekturen, Vor- und Nachbereitung, Konferenzen, Eltern- und Schülergespräche und vieles mehr gehören. Sein einziges »Sachargument« sind die in Berlin angeblich niedrigeren Pflichtstunden, obwohl er weiß, daß dieser alleinige Vergleichsmaßstab tendenziös ist.

Der Öffentlichkeit gegenüber wird behauptet, durch die Arbeitszeitverlängerung würden 1.500 Stellen gespart. Die GEW dagegen macht folgende Rechnung auf: Schon jetzt besteht in Berlin ein rechnerischer Lehrerüberhang von 2.000 Stellen. Denn nach der Vereinigung wurden im Ostteil die Klassenfrequenzen angehoben und die Pflichtstundenzahl erhöht. Nach der jetzt beabsichtigten Arbeitszeitverlängerung erhöht sich dieser Überhang auf 3.500 Stellen. Deshalb hat die GEW Berlin dies als die politische Vorbereitung von Massenentlassungen mangels Bedarf gewertet.

Durch den Druck der letzten Monate ist es immerhin gelungen, die Koalitionsparteien und auch den Schulsenator zu der Aussage zu bewegen, sie wollten im Ostteil der Stadt keine Kündigungen mangels Bedarf. Wenn aber durch die Arbeitszeitverlängerung lediglich der Überhang vergrößert wird und keine Entlassungen vorgenommen werden, findet auch so lange keinerlei Einsparung statt, bis der Überhang als Ausgleich für wachsende Schülerzahlen abgebaut ist. Dies wird mindestens drei Jahre dauern. Die Aussage, daß keine Kündigungen erfolgen sollen, wird von der GEW Berlin als Erfolg gewertet. Allerdings haben solche Willenserklärungen schon oft nur bis zum Wahltag Bestand gehabt! Deshalb fordern wir einen Tarifvertrag.

In seltener Eintracht wird die Stellenkürzungspolitik von Klemann nicht nur von allen Lehrerorganisationen, sondern auch von den Stadträten und Elternorganisationen abgelehnt. Um vielleicht doch noch den Widerstand von Lehrerinnen und Lehrern brechen zu können, diskreditiert der Schulsenator die geplanten Streikaktionen als rechtswidrig. Dabei müßte er, von Hause aus Jurist, wissen, daß es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung völlig legitim ist, für die Aufnahme von Tarifverhandlungen zu streiken. Deshalb hat auch niemand im Ostteil der Stadt arbeitsrechtliche Schritte zu befürchten.

Im Westteil der Stadt sind LehrerInnen überwiegend Beamte. Ihnen wird noch immer das Streikrecht verwehrt, obwohl die Bundeserepublik Deutschland damit gegen internationale Konventionen und Verträge verstößt, denen sie beigetreten ist. Wie auch immer: Das Disziplinarrecht als Relikt Wilhelminischer Beamtentradition hat längst seine Schrecken verloren.

Offensichtlich ist der Senatsschulverwaltung jedes Mittel recht, den Widerstand zu brechen. Deshalb hat sie Zugriff genommen zum ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz). Dieses Gesetz wurde geschaffen, um Volksaufruhr einzudämmen, und sieht bei der Gefährdung von Sicherheit und Ordnung ein Zwangsgeld von bis zu 100.000 DM vor. Da dem Schulsenator diese Summe offensichtlich nicht hoch genug erschien, wies er jüngst alle 23 Bildungsstadträte an, jeweils 100.000 DM Zwangsgeld gegen die GEW Berlin zu verfügen, um sie zum Verzicht auf weitere Streikaufrufe zu zwingen. Selbst wenn es Klemann gelänge, mit Zwangsgeldandrohungen weitere Streikaufrufe der GEW Berlin zu unterbinden, würde dies den Schulfrieden nicht wieder herstellen. Wer Brandstifter ist, darf nicht hoffen, das Feuer zu löschen, wenn er Öl hineingießt! Erhard Laube

Siehe Bericht auf Seite 23