Dreyfus-Affäre in Israel geortet?

Kurz vor Beginn der Revision im Prozeß gegen den zum Tode verurteilten Iwan Demjanjuk legt eine deutsch-jüdische Zeitschrift angebliche „Beweise“ für die Unschuld des Angeklagten vor  ■ Von Klaus Hillenbrand

Berlin (taz) — Eine deutsch-jüdische Zeitschrift will einen israelischen Justizskandal aufgedeckt haben. Heute, so schreibt 'Semit‘, „sind die letzten Zweifel über die wahre Identität des Angeklagten ausgeräumt. Es steht jetzt zweifelsfrei fest, daß Demjanjuk nicht „Iwan der Schreckliche“ war und daß der Ausweis, der zu seiner Verurteilung geführt hat, gefälscht ist.“

'Semit‘ hat dem „Fall Demjanjuk“, jenem Iwan dem Schrecklichen, der im Nazi-Vernichtungslager Treblinka an der Ermordung Zehntausender Juden beteiligt gewesen sein soll, ein Sonderheft gewidmet. Demjanjuk ist am 25. April 1988 von einem israelischen Gericht zum Tode verurteilt worden. „Es gibt kein Vergeben im Gesetz oder im Herzen“, meinte einer der Richter, Zwi Tal, bei der Urteilsbegründung. Demjanjuk wurde im SS-Ausbildungslager Trawniki ausgebildet. In Treblinka bediente er laut Urteil die Gaskammern. Im nächsten Monat geht in Jerusalem die Revisionsverhandlung gegen den heute 71jährigen weiter.

War es ein Schauprozeß, „Ergebnis einer möglicherweise von Anfang an geplanten Inszenierung“ ('Semit‘)? Das Blatt legt „Beweise“ vor, läßt einen Experten der Verteidigung, Dieter Lehner, zu Wort kommen, der Unstimmigkeiten am Ausweisdokument Demjanjuks entdeckt. Der Ausweis sei gefälscht, schreibt das Blatt, der US-amerikanische John Demjanjuk demzufolge nicht mit jenem „Iwan dem Schrecklichen“ identisch, der in Treblinka Menschen wie Vieh ermordete. 'Semit‘ bringt die verbogene israelische Justiz gegenüber den Palästinensern ins Spiel, thematisiert das „Geschäft mit dem Holocaust“. Ein neuer Fall Dreyfus, doch dieses Mal begangen vom jüdischen Staat an einem unschuldigen Amerikaner ukrainischer Abstammung? Ein näheres Studium der vorgelegten „Beweise“ läßt an dieser These erhebliche Zweifel aufkommen. Die „Beweise“ sind zum größten Teil die aufgewärmten Argumente einer gescheiterten Verteidigung in neuer Verpackung; oder wie es der Historiker Professor Scheffler— selbst Gutachter der Anklage im Prozeß — formuliert, ein „schlechter Aufguß dessen, was Herr Lehner in einer Broschüre vor Jahren schon einmal geschrieben hat“. Der „Experte“ Lehner war eben nie Gutachter im Demjanjuk- Prozeß. Nikolai Graf Tolstoi, der in 'Semit‘ dafür „betet“, daß die Verurteilung Demjanjuks zurückgenommen werden möge, war zwar Gutachter im Jerusalemer Prozeß (der Verteidigung, was das Blatt verschweigt), doch er wußte dort lediglich etwas über den Stalinschen Terror zu berichten. Der in 'Semit‘ zitierte Scheffler war nicht als „Fälschungsgutachter der Anklage“, sondern als Historiker geladen. Ein angebliches Gutachten des BKA über den Ausweis Demjanjuks ist keines. Bei einer ersten flüchtigen Analyse entdeckte man dort „eine Reihe von Auffälligkeiten, die nicht unbedingt für die Echtheit des Dokuments sprechen“ (BKA-Abteilungsleiter Werner). Eine nähere Untersuchung fand aber nicht statt, die Israelis zeigten daran kein Interesse.

Die historische Einleitung in 'Semit‘ aus der Feder Lehners diskreditiert sich selbst durch eine Reihe von Fehlern. Gegenüber den US-amerikanischen Behörden hatte Demjanjuk angegeben, zeitweise im Lager Sobibor gewesen zu sein. Dabei spielte es im Prozeß kaum eine Rolle, ob Demjanjuk auch im dortigen Vernichtungslager tätig gewesen sein könnte. Doch Lehner glaubt, Unstimmigkeiten zu entdecken. „Das Vernichtungslager wurde im Juli 1943 aufgelöst“, schreibt er im ersten Satz. Tatsächlich gab es zwar am 5.7. 1943 eine Anweisung Himmlers auf Umwandlung von Sobibor in eine „Entlaborierungsanstalt“ für Beutemunition, sie wurde jedoch nicht durchgeführt. „Nach einem Häftlingsaufstand wurde es (Sobibor, d. Red.) am 14. November 1943 aufgelöst“, schreibt Lehner im nächsten Satz. Das korrekte Datum ist tatsächlich der 14. Oktober 1943.

Das Kernstück aller „Beweise“ für die angebliche Unschuld Demjanjuks ist der Dienstausweis Nr. 1.393, ausgestellt auf den Namen Iwan Demjanjuk. Er dokumentiert— neben einer Reihe Zeugenaussagen, die in Demjanjuk „Iwan den Schrecklichen“ wiedererkannten — die Identität des Angeklagten mit dem Mörder von Treblinka. Das Papier wird flugs zum „amtlichen Dokument“ erhoben und dementsprechent seziert. Doch das ist zumindest irreführend. Das Papier war eine Identifizierungsurkunde, mehr nicht. Der Ausweis besaß zwar auch ohne ein weiteres persönliches Dokument Gültigkeit. Ein Dienstausweis wie im Falle Demjanjuks diente aber vor allem dazu, damit sich der Träger ausweisen konnte, wenn er in der Freizeit in der Kneipe saß, um nicht von Wehrmachtstreifen mitgenommen zu werden. „Da werden Dinge hochgespielt, die in Trawniki keine Rolle spielten“, so das Urteil von Helge Grabitz, Oberstaatsanwältin in Hamburg und lange mit NS- Verbrechen befaßt. Der Ausweis, an dem Lehner große Merkwürdigkeiten entdeckt haben will, wurde in Lublin von der SS hergestellt — dort galten nicht unbedingt die strengen Vorschriften aus Berlin.

Andere im Jerusalemer Prozeß eingeführte Ausweise mit „Mischdrucktypen“ fand 'Semit‘ nicht für würdig, anzuführen — dabei waren die angeblichen Unstimmigkeiten auch dort gang und gäbe. Der angeblich gefälschte Stempel ist Ergebnis des Durcheinanders bei der SS: Jeder SS- und Polizeiführer hatte seine eigene Stempelage. Die Behauptung, die auf dem Ausweis angegebene Dienststelle sei in Wahrheit unzuständig, ist falsch. Denn das zuständige Amt existierte damals in diversen Papieren weiter, auch wenn es formal aufgelöst war. Der „Ausrüstungsnachweis“ entspricht laut Lehner nicht den Gepflogenheiten der Wehrmacht. Kein Wunder: Ausgefüllt wurde der Nachweis (mit Fehlern) von Volksdeutschen — und die sprachen selbst nur fehlerhaftes Deutsch. Ohnehin gibt es keinen Anlaß dafür, anzunehmen, daß ein Dokument für „Hilfswillige“, hergestellt in Lublin, mit Ausweisen der Wehrmacht identisch sein soll.

Wenn Zweifel angebracht sind, dann deshalb, weil die israelische Seite den Auftrag für ein einmal bestelltes Gutachten beim BKA wieder zurückzog, nachdem dort der Anfangsverdacht geäußert worden war, es könnte sich um eine Fälschung handeln. Dem Jerusalemer Revisionsgericht kann nur geraten werden, diese Unstimmigkeit mit einem erneuten Gutachten auszuräumen. Heute aber zu behaupten, Demjankuk sei mit Sicherheit nicht „Iwan der Schreckliche“, ist schlicht unseriös. So werden Legenden gestrickt.

Bleibt die Frage, warum ausgerechnet das linke jüdische Magazin 'Semit‘ sich an die Spitze einer Kampagne für Demjanjuk stellt. In seiner Einleitung wirft Herausgeber Abraham Melzer Israel vor, mit dem Prozeß „die Auschwitz-Keule“ „aus der Rumpelkammer der Geschichte“ geholt zu haben. Der „Schauprozeß“ habe dazu gedient, die Öffentlichkeit zu erziehen. „Das Leid der Überlebenden wurde instrumentalisiert“, so Melzer. 'Semit‘ liegt schon lange mit dem „jüdischen Establishment“ quer. So betrachtet, mag die Demjanjuk-Kampagne ein Versuch sein, dieses Establishment bloßstellen zu wollen. Doch ob das gelungen ist, muß bezweifelt werden.