Ein Tatzeuge zum Bülowplatz-Mord

■ Geschichtsunterricht im Mielke-Verfahren/ Verteidigung fordert historischen Gutachter

Berlin (taz) — Im Prozeß gegen Erich Mielke wurde die ärztlich vorgegebene Verhandlungsdauer von eineinhalb Stunden gestern maximal genutzt. Das Gericht vernahm den Pankower Bauklempner Arnold Munter als Zeugen, der die tödlichen Schüsse auf dem Bülowplatz im Jahr 1931 unmittelbar miterlebt hatte. Und Mielke paßte während dieser Aussage auf wie ein Luchs.

Zunächst bestimmte Wahlverteidiger Sefan König mit einem brillant formulierten und vorgetragenen Antrag die Szene. König wies die Auffassung des Gerichts als „Fiktion“ zurück, daß man für die Jahre 1933/34, als die heute zur Anklage stehenden Ermittlungen gegen Mielke geführt wurden, zwischen (rechtsstaatswidrigen) Vernehmungen der Gestapo einerseits und angeblich korrekten Vernehmungspraktiken der Berliner Kriminalpolizei und Justiz unterscheiden könne. König zeigte, wie damals im Bülowplatz-Verfahren ermittelt wurde. Viele Angeklagte wurden, so ergibt sich aus den Akten, erst dann in das Polizeigefängnis eingeliefert, nachdem sie zuvor in Gestpo-Haft waren. Wenn die Kriminalpolizei keinen Haftbefehl gegen Beschuldigte erwirken konnte, bat sie die Gestapo um die Anordnung sogenannter Schutzhaft. Die Mutter Mielkes wurde schon im März 1933 vernommen, obwohl der Name „Mielke“ bis dahin in keiner heute vorliegenden Aussage auftauchte. Ein Jurist Mittelbach, der 1933 bei der Gestapo arbeitete, wurde wenig später Sachbearbeiter der Berliner Staatsanwaltschaft im Bülowplatz-Verfahren. Wegen dieser zahlreichen offensichtlichen Verfahrensverstöße beantragte König, Dr. Johannes Tuchel, den Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, als Sachverständigen zu hören. Das Gericht stellte die Entscheidung bis zum nächsten Montag zurück.

Anschließend berichtete der Zeuge Munter ausführlich vom Tatgeschehen am Abend des 9. August 1931. Der damals 19jährige war mit einem Freund zusammen auf dem Weg zum Kino „Babylon“, als in etwa zehn Metern Entfernung die tödlichen Schüsse auf Lenck und Anlauf fielen. Munter sah zwar nicht, wer genau schoß, „rechnete die Schüsse aber einer Gruppe von zwei bis drei Männern zu“, die ihn unmittelbar zuvor überholt hatten. Als der Sozialdemokrat Munter nach dem Krieg aus dem KZ Theresienstadt zurückkehrte und auf der Dienststelle für die Opfer des Faschismus seinen Lebenslauf angeben mußte und auf die Schüsse am Bülowplatz zu sprechen kam, sagte ihm Hans Schmirga: „Das ist Erich Mielke gewesen!“ Über den damals erschossenen Leiter des 7. Polizeireviers, Paul Anlauf, sagte Munter: „Sein Ansehen war nicht sehr günstig. Ich würde nie behaupten, daß Anlauf nur eine schlechte Figur war — aber auch.“ Nach den Schüssen rannte der Zeuge sofort weg, „da man damit rechnen mußte, daß mitunter auf die Bevölkerung geschossen wurde“. Ausführlich schilderte Munter die bedrückende Not, die damals im Scheunenviertel herrschte, und sprach darüber, wie rücksichtslos die Polizei gegen diejenigen vorging, die forderten: „Nieder mit der Regierung! Gebt uns Arbeit und Brot!“ Götz Aly