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„Ab jetzt ist jeder Tag Newroz“

In Türkisch-Kurdistan herrscht blutiger Krieg/ Mindestens 60 Tote und Hunderte Verletzte nach kurdischem Neujahrsfest/ PKK beschießt türkische Armee in Sirnak mit Mörsern und Raketenwerfern  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Nach dem Blutbad in Türkisch-Kurdistan am Wochenende, wo amtlichen Berichten zufolge im Zuge der kurdischen Newroz-Feiern über 60 Menschen — zumeist kurdische Zivilisten — getötet und Hunderte verletzt wurden, startete die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) Angriffe auf türkische Militäreinheiten. Nach Massendemonstrationen der Bevölkerung für die PKK und den tödlichen Schüssen der Armee auf Newroz-Demonstranten gilt in den Städten Sirnak, Cizre und Nusaybin Ausgangssperre. Die Provinzhauptstadt Sirnak steht im Zentrum der bewaffneten Kämpfe. Selbst das dortige Brigadecamp, ein wichtiges Lager der türkischen Armee, steht unter Beschuß der PKK.

„Wir verstecken uns im Keller. Die ganze Stadt wird dem Erdboden gleichgemacht“, sagte ein Einwohner am Telefon gegenüber der taz, bevor die Telefonverbindungen gänzlich abbrachen. Der Gouverneur von Sirnak, Mustafa Malay, sagte gestern nachmittag gegenüber dem staatlichen Radio TRT: „Wir haben den Angriff erfolgreich abgewehrt.“ Die Tageszeitung 'Sabah‘ zitierte den Gouverneur während der Kämpfe in der Nacht von Sonntag auf Montag: „Seit zwei Tagen haben wir keinen Strom. Alles ist unter Beschuß der Mörser. Wir haben den Kontakt zur Brigade verloren. Falls nicht Verstärkung aus Diyarbakir anrückt, sind wir verloren.“

Auch in Cizre halten die bewaffneten Kämpfe an. Das Polizeiwohnheim und das Landratsamt sind zerstört. Auf dem Friedhof wurde der abgeschnittene Arm eines Mitgliedes der unter der kurdischen Zivilbebölkerung verhaßten „Anti-Guerilla“ gefunden.

Der türkische Ministerpräsident Süleyman Demirel sprach von einem „Krieg“, den die PKK begonnen habe: „Das ist nicht das Feiern eines Festes. Die Organisation, die sich PKK nennt, hat einen Krieg eröffnet. Es gibt für uns nur zwei Alternativen: uns zurückzuziehen oder dort zu bleiben. Wir werden bleiben und beweisen, daß der Staat präsent ist. Nunmehr wird sich die Macht des Staates am Tage und in der Nacht zeigen.“ Entgegen zuverlässigen Augenzeugenberichten behauptete er, die Mehrheit der Todesopfer seien „Terroristen“. Die Regierung denke nicht daran, den herrschenden Ausnahmezustand auszuweiten und das Kriegsrecht auszurufen. Mittlerweile hat die Regierung vier Kabinettsmitglieder in die Region entsandt, die der Regierung einen Untersuchungsbericht vorlegen sollen.

Die „Sozialdemokratische Volkspartei“, Koalitionspartner in der Regierung, steht nach den tödlichen Schüssen vom Wochenende vor einer Zerreißprobe. Die Stellungnahmen des Parteivorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten Erdal Inönü deckten sich mit den Erklärungen des Ministerpräsidenten und des Innenministers, die die „terroristische PKK“ verantwortlich machen. Die kurdischen Abgeordneten der Partei stehen kurz davor, aus der Partei auszutreten. Der Abgeordnete Sirri Sakak, der Samstag dem Ministerpräsidenten und dem Innenminister Blumen überbrachte, um Newroz zu feiern, ist entsetzt: „Wir haben dem Ministerpräsidenten Blumen gebracht und als Dank Kugeln erhalten. Was jetzt vonstatten geht, ist ein Massaker.“ 23 kurdische Abgeordnete beantragten eine außerordentliche Fraktionssitzung der Partei.

Das erste Interview, das der PKK- Führer Abdullah Öcalan nach Newroz der türkischen Tageszeitung 'Milliyet‘ gab, läßt mit einer weiteren Eskalation rechnen: „Mit der Schneeschmelze wird alles anders. Wir warten schon 20 Jahre darauf. Ab jetzt ist jeder Tag Newroz“, sagte der Guerillachef, der von der libanesischen Bekaa-Ebene aus die Fäden zieht: „Wir haben unseren Guerilleros und der Bevölkerung weitgehende Bewegungsfreiheit gegeben. Auch ich weiß nicht, wann ein Militärposten oder eine Stadt angegriffen wird. Doch so etwas wird jetzt gang und gäbe. Es wird fiel Blut fließen. Die Volksbewegung ist sehr breit.“

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