1:20 - Das zweite Leben für den Zirkus

■ Im Wagen geboren, zum Wagen zurück / Der bremische Dekorateur Udo Tiedemann zieht zu Roncalli: „Für immer!“

Am 1. April 1992 fängt Udo Tiedemann (38) ein neues Leben an, „ja, ein völlig neues“, sagt er, „ischa nich zu spät“. Da zieht er mit Weib und Riesenhund und Kegel weg aus der Neustadt und zu Roncalli nach Köln und kommt, sagt er, „nie wieder“. So sprechen Apostel; er ist einer des Herrn Paul, Chef vom Roncalli, seit er ihn kennt.

In Köln wird Tiedemann, der gelernte Dekorateur, zunächst

„Den Wohnwagen von Mutti, hier, den kleinen grünen“ - und alle andern im Modell, mit Rädchen und Stäbchen und tausend Schindeln: „Genau wie früher“, eins zu zwanzig

das neue Roncalli-Zelt inwendig aufputzen und gleißen machen: „ja, mit Blattvergoldung und so, nix mehr Bronze“, sagt er und strahlt, weil er jetzt endlich dem Zirkus gehört mit Haut und Haar und Feierabend: Nach dem Tagwerk fängt's erst an mit den köstlichen Petitessen; da wird er sägen und pinseln und Rädchen, Glasplättchen, Stängelchen montieren zu einem Double des Zirkus Roncalli, alles wie echt, eins zu zwanzig.

Wenn er je fertig wird, kommt das Modell in Roncalli's geplantes Zirkusmuseum, aber das ist noch längst nicht alles; Tiedemann plaudert schon wieder von diesem und jenem, von seinen Ureltern zumal, Fahrensleute allesamt; und sein Zwirbelschnäuzer hüpft, weil jetzt das wirkliche Leben beginnt und der wirre Prolog ein Ende hat.

Ja, die alten Tiedemanns, die Schausteller, jetzt hätten sie ihre Freude an dem Nachfahren. Udo Tiedemann, selber noch „im Wagen geboren“, ist im ersten Leben ein seßhafter Dekorateur geworden und schließlich ehrengeachteter Mitinhaber des Second- Hand-Kaufhauses Happy Shop in der Neustadt, und auf einmal, vor acht Jahren, hat er angefangen, nach alten gilben Fotos die alten bunten Buden und Wagen der Ureltern nachzubauen, eins zu zwanzig, dazu ein wunderschönes Kettenkarussell (drehbar), und hat sich alles so schwer wie möglich gemacht: Selbst von den tausend Schindeln, die mittels tausend Stiften das Dach je eines Wagens decken, hat er sich kein einziges erspart.

Tausende von Arbeitsstunden steckte er in seine 13 Modelle, „hier, sehen Sie, das ist der Wohnwagen von Mutti, der kleine grüne“; er hat in ihr geschenkt und seiner Schwester auch einen, wo doch beide noch praktizierende Schaustellerinnen sind; und immer noch hatte er,

Der Augenblick, als Bernhard Paul (links) kam, der Roncalli-Chef, und Udo Tiedemann (rechts) samt seinen Modellen vom Fleck weg anheuerte. Eins von hundert Fotos. Foto: privat

sagt er, „mit diesem abgewrackten Zirkusbetrieb nix am Hut“. Bis er, nunja, mal zu Roncalli ging; das hat ihn hingestreckt: „diese Ideen, diese Pracht, dieser Prunk, wie früher!“

Baute er sofort zwei Roncalli- Wagen nach, je 500 Stunden Arbeit. Und wahrhaftig, es kam die Gelegenheit, es kam einmal der große Direktor Bernhard Paul,

hierhin bitte

die zwei Männer mit

Knaben hinterm Tisch

mit Zirkusmodellen

und Tiedemann zeigte ihm sein Werk, und Paul war gerührt, und Tiedemann hat an die hundert Fotos von diesem Augenblick.

Kurzum: Paul hat ihn auf der Stelle angeheuert für sein Kölner Projekt. Da entsteht, im Stadtteil Mülheim, auf 20.000 Quadratmetern Roncalli-Gelände ein original Zirkusmuseum und drumrum quasi ein altes Städtchen mit

kleinen Lädchen und Werkstätten, wo Küfner und Posamentiererinnen in die Sonne blinzeln; und putzige Kutschen fahren zweispännig auf der Promenade; ein altes Kino zeigt stumme Filme; ein Roncalli-Winterbau hat sommers Platz für allerhand Gaukler — und mittendrin wird einmal Udo Tiedemann wohnen, „direkt über einem Wiener Cafe!“ und wird schmirgeln und entrosten und tischlern, bis all die alten, kaputten Sachen, die der Direktor immerzu anschleppt, wieder ein nahezu normales Leben führen können.

Allein hiermit hat er Jahre zu tun, achja, und das neue Roncalli- Luxuszelt („allein 500 Logen!“) kommt natürlich erst mal dran und wird auch ein Jahr verschlingen; solang wird er wohl noch im Wohnwagen hausen müssen; nein, es macht ihm nichts aus, seiner Frau noch weniger; die beiden fanden immer schon „das Zigeunerleben schick“, mit Wohnmobil und Zelt und so. Und die Frau, nunja, sie wird jetzt auch ihr Glück machen, sagt er. Schluß nämlich mit Köchin! Sie fängt bei Roncalli als Tierpflegerin an.

So viel hat er sich vorgenommen, daß es kaum in ein zweites Leben geht. Wenn er dann erst den ganzen Roncalli-Zirkus fürs Museum nachbaut! All die Wagen! Mir ist ja ein wenig bang um ihn, wo er für die ersten zwei schon tausend Stunden gebraucht hat. Wieviele Wagen müssen's denn werden, frag ich ihn. „Siebzig!“ sagt er und lacht wie einer, den jetzo gar nichts mehr schreckt auf Erden. Gewährt er sich denn gar keinen Nachlaß? Sagen wir: zweiunddreißig, und dann Schluß? „Siebzig!“ sagt er, „keine halben Sachen!“ Manfred Dworschak