Jenseits von Brooklyn

■ Die Shoah im amerikanischen Avantgarde-Film

Noch bis zum 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus von Mittwoch bis Sonntag um 17 Uhr und 20 Uhr jüdische Filme aus verschiedenen Ländern. Ein Teil der Filme wird im Arsenal wiederholt. Jeden Mittwoch stellen wir hier eine Auswahl vor.

Auf den wenigen Quadratkilometern der Lower East Side New Yorks lebten um die Jahrhundertwende bis zu einer halben Million Menschen aus Osteuropa. Diese Enge führte — neben vielem anderen — zu einer nie dagewesenen Konkurrenz zwischen den Kantoren der Synagogen, die zudem überraschende Parallelen zum Starsystem Hollywoods aufwies. Die Konfrontation der beiden Karrieren, die einem jungen jüdischen Virtuosen damals offenstanden — die des Kantoren und die des weltlichen Bühnenstars —, ist das Thema des ersten synchronen Tonfilms, der je gedreht wurde, The Jazz Singer (Alan Crosland, USA, 1927) Mit dem Ragtime-Publikumsliebling Al Jolson in der Hauptrolle markiert der Film das Ende der Stummfilmära einerseits und des Vaudeville-Amüsierbetriebs andererseits. Er erzählt die Geschichte von Jakie Rabonowitz, dem Sprößling einer Familie, deren Oberhäupter seit fünf Generationen Kantoren gewesen waren. Jakie läuft als erster von zu Hause weg, um Jazz zu singen, woraufhin er von seinem Vater verstoßen wird. Die Überblendungen von Aufnahmen des Vaters in der Synagoge mit Bildern von seinem Dirty Hands, Dirty Face singenden Sohn deuten die Verschmelzung von Tradition und Moderne an. Verstärkt wird diese Assoziation durch Zwischentitel in denen Jazz als eine Form des Gebets bezeichnet wird. Während Jakie, der sich Jack Robin nennen läßt, an der Westküste einer mondänen Schickse verfällt, führt ihn ein Broadway- Auftritt in die Arme der Gemeinde zurück. Er kann seinen sterbenden Vater (und den Fortbestand des Judentums) nur retten, wenn er an Yom Kippur, dem Tag der Versöhnung, das traditionelle Kol Nidre in der Synagoge singt.

Daß er in der folgenden Broadway-Show als Schwarzer geschminkt ist, deutet auf die Bilanz zweier Außenseitergruppen der amerikanischen Gesellschaft hin, die in der Bürgerrechtsbewegung der Sechziger ihren Höhepunkt und in den Krawallen in Brooklyn vor einem halben Jahr ihr Ende fand. Mit dem Tod des Patriarchen Rabinowitz kann sich Jakie vollends seiner weltlichen Karriere zuwenden. Der Film hinterläßt ein seltsam ödes Gefühl (Donnerstag, 20 Uhr).

Meine beiden Favoriten der gesamten Reihe sind, ihrem Rang nicht angemessen, auf die 17-Uhr-Schiene des kommenden Sonntags verbannt. Es handelt sich um zwei Beispiele, wie die amerikanische Filmavantgarde versuchte, mit der Shoah als biographischem, historischem und ästhetisch-ethischem Problem umzugehen. Der Gestus ist in beiden Fällen der eines work in progress — eine abschließende Form kann es nicht geben.

Urban Peasants: An Essay in Jewish Structuralism (USA 1930-75) von Ken Jacobs besteht zum einen aus bloßen Tonsequenzen (vor hellroter Leinwand), in denen jiddischer Sprachunterricht erteilt wird — ganz so, als gäbe es nach dem Untergang der jüdischen Lebenswelten in Osteuropa noch irgendein Land auf der Welt, wo man diese Sprache braucht, um nach einem Hotelzimmer zu fragen. Auf diese Sequenzen, die dem Zuhörer die Gelegenheit geben, eine imaginäre Reise in ein Jiddischland anzutreten, folgen Aufnahmen, die eine Angehörige Jacobs' von ihrer Familie in Brooklyn in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren gemacht hat, ein Home movie, dessen Überbelichtungen und Unschärfen der Filmemachergeneration von Jacobs so viel bedeuteten, weil sie vollkommen unprätentiös sind. Babies werden in die Kamera gehalten, dicke Küsse verteilt. Es wird posiert, Oma und Opa legen sich beim Ausflug zum Nickerchen ins Gras. Wieder spielt der eigentliche Film im Kopf des Zuschauers: Würde man den Globus drehen, sähe diese jüdische Familie aus Osteuropa mit ziemlicher Sicherheit der Vernichtung entgegen. Der Film mündet dann wieder in eine scheinbar gewöhnliche Sprachlektion mit dem Titel When you're in trouble. Der letzte Satz heißt I am an America. Alles ist gut.

Cooperation of Parts (USA 1998) vom Jacobs-Schüler Daniel Eisenberg ist der treffende Titel für einen Filmessay, der den Versuch behandelt, sich Geschichte über Bilder von Orten anzueignen — ein Prozeß, an dessen Ende auch die Konstruktion der eigenen Identität stehen muß. Eisenberg zeigt Bilder von gemütlich- barocken Dächern und Puttenengeln in Dachau, von Zugfahrten durch die grünen Täler Süddeutschlands und der pletschernden Isar, von Auschwitz im Sonnenschein. Dazu läßt er kryptische Alltagsweisheiten erklingen (The longest way is from the mother to the front door; Whereever you go, you can never get rid of yourself.).

Damit markiert er die Schnittstelle zwischen dem poetisch-psychologischen Avantegardefilm der vierziger Jahre zum strukturalistischen Film der Siebziger, dessen Hauptanliegen die Visualisierung von »Sinnbildung«, von Signifikationsprozessen war. So wie die Judenvernichtung selbst das erschreckend reibungslose Zusammenwirken verschiedener Teile der Bürokratie voraussetzte, so konstituierte sich auch die Identität des Sprechers über Orte, Zeiten und Bilder, und natürlich ist auch der Film selbst ein fragiles Konstrukt aus disparaten Einzelteilen.

Das Ergebnis dieses Konstruktionsprozesses ist genau die Wachheit des Zuschauers, die sich Brecht immer gewünscht hat; mit offenen Augen, arbeitenden Gehirnzellen und großer Empathie verfolgt man die Rekonstruktion zerrissener Lebenslinien. Mariam Niroumand