Bedeutungsgeber als Helden

■ »Berliner Besucherschule« — Über Ausstellungsmacher und deren Theorie im Zeitalter heißer Luft

Alan Bowness, ehemaliger Direktor der Londoner Tate-Galery, hat vor kurzem ein Büchlein über Künstler und deren Ruhm geschrieben. Der Ruhm, sagt er, fällt nicht vom Himmel. Es gibt vier Stufen des Erfolgs, die der Künstler erklimmen muß, um zur wahren Anerkennung, zu einem Platz in der Kunstgeschichte zu kommen: Anerkennung durch Kollegen, Anerkennung durch Kritiker, Unterstützung durch Händler und Sammler und die Beliebtheit beim Publikum. Bowness nennt zusätzlich aber auch Zwischenstufen für die kleinen Schritte: Neben der bekannten Grundregel für Aufsteiger, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, rät er den Kunsteleven etwa, einen guten Einstieg ins System zu finden. Das heißt: nicht irgendwo ausstellen, sondern dort, wo man leichter von der Badstraße (lila) in die Schlostraße??? (rot) vorrücken kann.

Sehen wir, wie das Spiel in der Praxis funktioniert. Zum Beispiel in der Ausstellung Besucherschule der »Stiftung Starke«, die dort angesiedelt ist, wo das Berlin-Monopoly die feinsten Adressen hat, die Tennisclubs Rot-Weiß oder Blau-Weiß beispielsweise — dort also, wo mancher vor lauter Dezenz glatt das Atmen vergißt. (Blau)??? In der Grunewalder Koenigsallee also gibt es die Besucherschule der Künstler Meyer, Dellbrügge/de Moll, Höller und des Herrn Tannert, bei dem nicht recht klar ist, ob er als Faktotum oder als Spritus rector des Unternehmens fungiert. Besucherschule ist eine Einrichtung, die von Bazon Brock, dem Wuppertaler Kunstprofessor und Universalisten, seit Jahren in Ausstellungen, wie der documenta etwa, dem Publikum angeboten wird. Seine Grundidee ist, daß das Zeigen, Deuten und Erklären, ohne den üblichen didaktischen Krampf, zur hohen Kunst werden kann — außerdem macht's auch Spaß, mit den Leuten zu reden und dabei zu brillieren.

Was bietet die Berliner Besucherschule an? Zunächst: einen dünnen Katalog und vier Räume, die irgendwas mit Kindheit, Kindergarten, Vorschule, Zahnspangen und verschluckten Kaugummis zu tun haben. Nutzen wir die Tage der offenen Tür und schauen uns um. Im ersten Raum zeigen Dellbrügge/de Moll in Kleinkindaugenhöhe gehängte Schiefertafeln, auf denen gezeichnete Bilder aus Bertelsmanns Volkslexikon von 1956 abgebildet sind: Querschnitte einer Kartoffel, der Seenotkreuzer »Büsum« im Einsatz und anderes. Im Nachbarraum hat dasselbe Team neun Kinderstühle zu einem Kreis geordnet und in die Mitte gestellt — fertig zum Sensitivitäts-Encounter für Junioren. Dann folgt der Raum von Frau Meyer mit einem sehr schicken halbkreisförmigen Stehpult (Typ: Lufthansa Ticketdesk) und an den Wänden Cibachrome-Fotos hinter Glas. Auch hier geht's um Kindheit: ein frisch geputztes Kinderpaar guckt ernst ins Fotoobjektiv, daneben ist der Porträtkopf eines Schimmels zu bewundern, eines der beliebten Postkartenmotive und gern gesehenen Symbole für Freiheit und Abenteuer. Es folgt, wie die Lösung einer Aufgabe, in kursiver Letraset-Schrift das Wort: »Danke«. Gegenüber hängen vier Bilder aus Reiseprospekten. Neuschwanstein im Sommer, Wunderwelt der Berghöhlen, Traubenkur in Meran, Bayerischer Wald — Orte der Mythen und der Sagen. Den letzten Raum schließlich hat Herr Höller gestaltet: mit einer zwergenhoch gehängten Ballonlampe, einem gelbroten Fleck an der Wand — wie Kinderkotze — und Kindergummistiefel, die mit einer festen, kakaoähnlichen Substanz ausgegossen sind; mit einigen halbierten und lädierten Spielsachen und einem umgestürzten Laufställchen, das wie eine Fall??? von einem Holzstück gestützt wird.

Ende der Schulung. Der Besucher fragt nun nach der Bedeutung und schaut in den Katalog. Neben allerlei Zitaten von Baudrillard und Virilio, den beliebten Seitenfüllern und Tiefsinnspezialisten, neben diesem und jenem Aufgelesenen, das irgendwie interessant klingt, ist ein kurzer Text von Herrn Tannert abgedruckt, der vielleicht Aufschluß geben könnte. Man liest den Satz: »Ausstellungen werden zu Besucherschulen, wenn theoretische Indienstnahme von Kunst nicht mehr mit ihrem Sinnlichkeitshorizont kollidiert, wenn Bild und Wissen (außerdem Traditionen, Vorbilder und das Vorwissen der Rezipienten) gleichermaßen zur Mitteilung drängen.« Aha. Bisher ist es also so gewesen, daß »theoretische Indienstnahme von Kunst« mit deren »Sinnlichkeitshorizont« kollidierte, und es passierte alles mögliche, nur jene geheimnisvollen Besucherschulen entstanden nicht. Nun aber scheint die Gefahr gebannt: vielleicht dank der höheren Wesen, die auch schon dem Maler Polke — anno 1969 — befahlen, die rechte obere Ecke seiner Leinwand schwarz zu malen. Wie schön. Aber was geschieht, wenn »Bild und Wissen, außerdem Traditionen, Vorbilder und das Vorwissen gleichermaßen zur Mitteilung drängen«? Ja, das weiß doch jedes Kind, wenn's gleichermaßen drängt, gibt's Brechreiz und Bauchweh und zum Glück schulfrei. Und so geht's weiter in Tannerts Text, Satz um Satz, als sei er von einem besonders bösartigen Pauker mit Leidenschaft fürs Ärmelschonerdeutsch indienstgenommen worden: »Spannende Varianten sind meist die der Reduktion, der Unterbrechung und der Umkehrung der Sinnstruktur. Alle mit einer an Verlängerung des Zeitmaßes gekoppelten und im Austausch mit einem theoretischen Bezugsrahmen stehenden Metaphern erweisen sich gegenwärtig als Querschläger innerhalb des Kunstbetriebs, dessen enorme Geschwindigkeit inside nur noch durch Gewalt und weniger durch Kommunikation beherrschbar scheint.« Uff! Haben wir nicht gerade im Seminar über Unterdrückungsmechanismen gelernt, daß Gewalt auch Kommunikation ist? Und wer stemmt sich da, mit Virilio in der Tasche und Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit im Kopf, gegen die Stürme im Kunstbetrieb, die offenbar die gefürchteten Bilderfluten abgelöst haben? Welche Metaphern sind es, die in diesem Katastrophenszenario sich als Querschläger erweisen? (Wo jeder Knallfrosch doch weiß, daß Querschläger im Sturm kaum eine Chance haben.)

Nun — Metaphern sind Glückssache, Sprache und Gedanken sowieso, und überhaupt sollte man alles nicht so eng sehen. So verhält es sich nun mal mit der Katalogprosa. Quatsch mit Soße — oder, um beim schiefen Bild zu bleiben: die enorme Geschwindigkeit, die Insider Tannert zu spüren meint, ist vielleicht nur die heiße Luft, die er selbst produziert. Denn er ist ja nicht nur Autor, der um Worte schwitzt, sondern auch Ausstellungsmacher und Projektleiter (Bildende Kunst) des Künstlerhauses Bethanien. Und somit gehört er zu jenen Leuten, die Bowness in seinem Büchlein zu denen zählt, die der Künstler kennen (und hofieren) muß, um zum Erfolg zu kommen: die Multiplikatoren, Kuratoren, Juroren etc.

Und die Künstler der Berliner Besucherschule? Die haben eigentlich alles richtig gemacht — nämlich genau die Mixtur genommen, die in den Kunstvereinen von Aurich bis Ziegenhagen gängige Ware ist: ein bißchen Anarchie im Kinderzimmer, ein bißchen Ironie an der Bilderwand, ein bißchen Fuffziger-Jahre-Nostalgie. Kurz: sie haben den richtigen Mann am richtigen Platz als Bedeutungsgeber engagiert. Sie sind keine Querschläger, sondern brave Schüler, die schon den Finger heben, bevor der Lehrer überhaupt in der Klasse ist. Und was hat das alles mit der Besucherschule zu tun? Wenig. Die gibt's genaugenommen gar nicht. So wie die Liebe (Uta Danella): Nur ein Wort. Und das fliegt oder steht im Raum und wartet darauf, abgeholt zu werden. Andreas Seltzer