HEUTE STREIKEN 21.000 BERLINER LEHRER

Berliner „Nachkriegsklassen“

Berlin (taz) — „Sag mal, wo sind denn deine Schulbücher?“, fragte ich letztens meinen kleinen Viertkläßler, als ich zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal das unglaubliche Chaos durchstöberte, das er ohne zu erröten seinen „Ranzen“ zu nennen pflegt. „Was für Schulbücher denn, Paps?“ Ich sah ihm tief in die Augen, konnte jedoch kein verräterisches Blitzen erkennen. „Na Mensch, Deutsch, Mathe und so weiter, du weißt doch wohl, was ich meine.“ „Also Papa, wir haben keine Bücher, nie gehabt, die arme Schule hat doch kein Geld.“ Dabei sah er mich an, als hätte ich behauptet, zwei und zwei ergäben nur drei Erdbeereis. „Statt Bücher haben wir doch Blätter“, klärte er mich auf und griff in seinen grünen Scout, um einen Packen weitgehend zerknüllter Bogen schlecht kopierter Arbeitsblätter herauszufischen. „Da, wir kriegen solche Zettel!“ Wütend entriß ich ihm das Zeug und fuchtelte damit wild vor dem Gesicht meiner Frau herum. „Wußtest du ...“ „Außer dir weiß es eigentlich jeder, mein Lieber, die Schule bekommt kein Geld für Bücher, das ist in Kreuzberg und anderen Vierteln Berlins nichts Ungewöhnliches. Es gibt viel Schlimmeres.“ „Genau Papi, zum Beispiel können wir seit Jahren nicht richtig aufs Klo.“ „Was?“ „Die Toiletten für die Klassen, die noch immer keine WCs auf dem Stockwerk haben, sind auf dem Hof. Die waren schon immer kaputt“, meint er. „Außerdem kann man den Gestank nicht aushalten.“ „Ist doch aber kürzlich repariert worden“, warf seine Mutter ein. „Wir gehen trotzdem nicht.“ „Wieso?“, frage ich, nun vollends erschüttert. „Weil, den Gestank haben sie nicht repariert. Und der tötet; übrigens in Sekunden.“

Berlin, Hauptstadt Deutschlands, eines der reichsten Länder der Welt. Schulen, die seit Jahren vor sich hinbröckeln, defekte Toiletten im Keller oder Notdurft im Freien, „Nachkriegsklassen“ mit über dreißig Schülern; kein Geld für Schulbücher und, Gipfel der Rücksichtslosigkeit, eine aktuelle städtische Großoffensive gegen die Lehrerschaft. Die sollen mit weniger Personal in Zukunft noch mehr arbeiten und eine weitere Aufstockung der Schülerzahlen pro Klasse hinnehmen. Daß Klassen mit einem hohen Prozentsatz ausländischer Schüler jedem Lehrer erheblich mehr Einsatz abverlangen, scheint man nicht zu registrieren. Da wird lieber mit Zwangsgeld im Falle von Streik gedroht.

Eine Art rhetorischen Springbock schoß kürzlich die Berliner FDP- Landes- und Fraktionsvorsitzende Carola von Braun, als sie die Bürger der Stadt öffentlich aufforderte, sich endlich „vom Kiez-Fan zum Hauptstädter“ zu mausern. Zwar könne man in den Bezirken Kreuzberg und Prenzlauer Berg leider durchaus Anzeichen von Verdrängungen beobachten. Doch seien da schließlich neue Anforderungen, mit denen die Metropole fertig werden müsse: Olympia, Regierungssitz, steigendes Verkehrsaufkommen und die „Zuwanderung vieler Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft“.

Der Berliner Dachverband der Kinder- und Schülerläden (DAKS) rief um Hilfe: Skrupellose Spekulanten, vom politisch abgesegneten Abzockfieber befallen, bedrohen diese in der Ex-BRD bislang einmalige soziale Errungenschaft: Fast 12.000 Westberliner Kinder werden seit Anfang der Siebziger in sogenannten Elterninitiativkindertagesstätten (EKT) tagsüber betreut, damit beide Elternteile arbeiten und sich verwirklichen können.

DAKS hat nun eine aktuelle „schwarze Liste“ von 150 Kinderläden zusammengestellt, die durch angekündigte Wuchermieten vor dem sicheren Aus stehen oder die Kündigung bereits erhalten haben. Der Rest wird innerhalb von fünf Jahren folgen, heißt es resignierend.

Wenn morgen alle Hundecoiffeure der Stadt Lächerlichkeitssteuern zu entrichten hätten, ein Volkssturm der Empörung bräche über den köterverachtenden Senat herein. Die stark mit krebserzeugenden und erbgutschädigenden Giftstoffen verseuchten Kinderspielplätze aber lassen wir einfach, wie sie sind, setzen halt die Grenzwerte für die hochgiftigen „aromatischen Kohlenwasserstoffe“ etwas höher. Und wenn dann so ein Kurzer irgendwann in seinem Leben an Krebs erkrankt: Ja mein Gott, die Welt ist schlecht. Weiß doch jeder! Philippe André