: Monsterpartei: Kastration liebestoller Politiker
In Großbritannien wird der Wahlkampf mit allen Mitteln geführt/ Politiker küssen ständig Kinder/ Spielfilm-Regisseure drehen Werbespots für Torys und Labour/ Screaming Lord Sutch will Polizei mit bleifreien Bleistiften ausrüsten ■ Aus Edinburgh Ralf Sotscheck
In Großbritannien geht die Angst um. Kein Baby, kein Kind unter zehn Jahren ist mehr sicher. Der Hergang der Taten, die seit zwei Wochen aus allen Ecken der Insel gemeldet werden, folgt einem bestimmten Muster: Zwei Männer — die jedoch nie gemeinsam auftreten — mischen sich in dunklen Anzügen unter die Menge, greifen sich ein Opfer und küssen es ab. Sodann steigen sie in schwarze Limousinen und verschwinden genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind. In Großbritannien herrscht Wahlkampf.
Aus unerfindlichen Gründen glauben Premierminister John Major und der Labour-Vorsitzende Neil Kinnock felsenfest, beharrliches Schütteln der Hände ahnungsloser Spaziergänger in Birmingham ebenso wie das Abküssen Minderjähriger in Edinburgh werde zusätzliche Wählerstimmen einbringen. Einer allerdings hält sich in dieser Hinsicht etwas zurück: der Chef der Liberalen Demokraten, Paddy Ashdown. Ihm ist noch in allzu frischer Erinnerung, welchen Medienwirbel im Februar die Enthüllung auslöste, daß er in der Vergangenheit seine Sekretärin intensiv und regelmäßig geküßt hatte — und das unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Doch auch Ashdown zieht durch's Land, besucht unaufgefordert Firmen und Fabriken und schäkert mit der Belegschaft.
Was würde jedoch die beste Werbeshow nützen, wenn die Bevölkerung daran nicht teilhaben könnte? Die Labour Party hat den Spielfilm- Regisseur Hugh Hudson (Chariots of Fire) angeheuert, um Kinnock richtig in Szene zu setzen: Kinnock — The Movie. Die Torys antworteten mit John Schlesinger, bekannt unter anderem durch den Film Midnight Cowboy; fraglich jedoch, ob er aus dem eher farblosen John Major je einen Tory-Cowboy machen kann. Bei der Inszenierung der Vorstellung des „neuen“ Wahlprogramms hat er jedenfalls versagt: Das Kabinett schlich leise in den Saal und nahm auf der Bühne hinter viel zu hohen Schreibtischen Platz, so daß vom Parkett aus nur noch die Köpfe zu sehen waren; ein Bild, das fatal an die Sitzungen des alten Politbüros im Moskauer Kreml erinnerte. Mit einem Unterschied: Die Londoner Männerriege hatte sich von den Hinterbänken eine Alibifrau geliehen, die mit dem Kabinett in der ersten Reihe sitzen durfte.
Ganz anders die Labour Party: Kinnock und sein Schattenkabinett, in dem gleich drei Frauen vertreten sind, sprangen zu den Klängen klassischer Musik leichtfüßig auf die Bühne und ließen sich vor einem gigantischen Bouquet roter Rosen fotografieren — das einzige Rot allerdings, das bei Labour noch übriggeblieben ist. Ansonsten beherrscht die moderne Technik den Wahlkampf. Die Wahlstrategen hoffen, daß im Notfall — wenn Kinnock sich mal wieder in den eigenen Fuß schießt — der Schaden durch schnelle Kommunikation mit dem Mobiltelefon begrenzt werden kann; und wenn alles schiefgeht, gibt es ja noch Hudson, den Regisseur. Die Tatsache, daß Konservative und Labour zwei Spielfilm-Profis mit den Werbespots beauftragt haben, müßte eigentlich auch Gutgläubigen die Augen öffnen: Im Wahlkampf geht es um Fiktion, nicht um Dokumentation.
Mancheiner dokumentiert dann allerdings doch — mit seiner eigenen Vita. Tommy Sheridan zum Beispiel, der die Boykottkampagne gegen die ungerechte Poll Tax (Kopfsteuer) in Schottland organisiert hatte, muß seine Wahlkampagne vom Knast aus führen: Er sitzt zur Zeit eine sechsmonatige Strafe wegen „Mißachtung des Gerichts“ im Saughton-Gefängnis von Edinburgh ab. Sheridan kandidiert für den aus der Labour Party verbannten „Militant“-Flügel. Die Behörden haben ihm zwei Pressekonferenzen im Gefängnis genehmigt.
Der Preis für den phantasievollsten Wahlkampf gebührt zweifellos dem Rocksänger Screaming Lord Sutch und seiner „Official Monster Raving Loony Party“. Der brüllende Adelige (Lord David Sutch) will über 50 KandidatInnen aufstellen — dann steht ihm nämlich ein Fernseh- Werbespot zu. Und Sutch verspricht den „verrücktesten Wahlkampffilm aller Zeiten“. Die Kernpunkte seines Wahlprogramms sind Kastration über-amouröser Politiker, bleifreie Bleistifte für die Polizei und die Streichung der beiden schlimmsten Wintermonate, Januar und Februar, aus dem britischen Kalender. Für den — überaus unwahrscheinlichen — Fall, daß die Monster-Partei nach der Wahl das Stimmgleichgewicht im Parlament halten sollte, hat Sutch bereits den Preis für die Unterstützung der jeweiligen Regierungspartei genannt: mindestens ein Ministerposten für ein wahnsinniges Monster. Die Erfüllung dieser Bedingung dürfte weder den Torys noch der Labour Party schwerfallen.
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