Slowakischer Ex-Premier war angeblich Geheimdienstler

Prag (taz) - Zwei Monate vor den Parlamentswahlen wird die politische Szene der Tschechoslowakei von einem neuen Skandal erschüttert, ein Skandal, der diese Wahlen entscheidend beeinflussen dürfte. Nach den jüngsten Untersuchungsergebnissen eines slowakischen Parlamentsausschusses ist Vladimir Meciar, ehemaliger Ministerpräsident und Vorsitzender der stärksten Partei der Teilrepublik, in den Verzeichnissen der Mitarbeiter des tschechoslowakischen Staatsicherheitsdienstes STB aufgeführt. Unter dem Decknamen „Doktor“ soll er in den achtziger Jahren Alexander Dubcek beschattet haben.

Spekulationen über die Tätigkeit des „Doktors“ waren bereits vor wenigen Wochen durch die Presse gegangen. Da aus den in Bratislava aufbewahrten Archivmaterialien des STB jedoch einige Seiten herausgerissen worden waren, fehlten bisher die Beweise. Nun wurde festgestellt, daß sich in einem sogenannten Fonds „Z“ des föderalen Inneministeriums zwei Karteikarten auf den Namen „JUDR. Vladimir Meciar“ befinden. Die erste verzeichnet, daß Meciar 1970 wegen der Verteilung antisowjetischer Flugblätter strafrechtlich verfolgt wurde, die zweite, im März 85 angelegte, weist Meciar als „Agenten“ des STB aus. Das Fehlen der Seiten erklärt außerdem, warum Meciar, der auch Abgeordneter der Prager Föderalversammlung ist, von der parlamentarischen Untersuchungskommission, die monatelang diese Abgeordneten überprüfte, bisher nicht „enttarnt“ wurde.

Spekulationen gibt es nun aber auch darüber, ob Meciar selbst an der Beseitigung des belastenden Materials beteiligt war. Der parlamentarische Ausschuß untersucht, ob er während seiner Tätigkeit als slowakischer Innenminister mehrere Polizeibeamte beauftragte, in einer Villa des Staatssicherheitsdienstes im mittelslowakischen Trencin — dem ehemaligen Wohnort Meciars — Akten „sicherzustellen“. Zugleich soll er den Polizisten, der sich wegen dieses Befehls mit einem Protestbrief unter anderem an Vaclav Havel wandte, entlassen, den Leiter des Teams jedoch befördert haben.

Auf die Ergebnisse des Berichtes hat Vladimir Meciar vorerst nicht reagiert. Bisher jedoch hatte er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe stets als völlig gegenstandlose Angriffe seiner politischen Gegner bezeichnet. Und tatsächlich war Meciar wegen seiner „links-nationalistischen“ Politik seit Monaten das vorrangige Angriffsziel der konservativen Prager Politiker und ihrer Presseorgane gewesen. Da er sich immer wieder deutlich für eine „unabhängige Slowakei“ ausgesprochen hatte, wollten seine Kontrahenten damit einen fast schon sicheren Wahlsieg Meciars und das Ende des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken doch noch abwenden. Sollten sich die Vorwürfe nun bestätigen, müssen die slowakischen Nationalisten nicht nur auf ihren populärsten Spitzenpolitiker verzichten. Vergrößert haben sich auch die Hoffnungen auf den Erhalt der Tschechoslowakei. Sabine Herre