Durchsuchungsaktionen in Kurdistan

In Sirnak ziehen türkische Militärs von Haus zu Haus/ Ein Toter bei gezielten Schüssen auf Journalisten/ PKK-Sprecher kündigt „totalen Krieg“ an/ Kabinett fordert zur Niederlegung der Waffen auf  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Trotz des Abflauens der erbitterten Kämpfe in Türkisch-Kurdistan eskaliert die Gewalt in der Region — und nicht nur dort. In den vergangenen drei Tagen wurden mindestens 57 Menschen getötet. In Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, wo es zum Neujahrsfest Newroz vergleichsweise ruhig war, heulten gestern mittag am Militärflughafen die Sirenen. Eine Bankfiliale wurde mit Molotowcocktails beworfen. In Sirnak, einem der Zentren der Kämpfe, herrschte gestern gespannte Ruhe. „Sirnak gleicht einem Schlachtfeld“, sagte der Gouverneur der Stadt, Mustafa Malay. Bürgermeister Ahmet Yildirim, beschrieb in einem Telefongespräch folgendermaßen das Straßenbild: „Wenn sie mein Haus sehen könnten, würden sie sagen 'Wie kann jemand lebendig da rauskommen?‘ Ich bin der Bürgermeister dieser Stadt und mein Haus ist mit am stabilsten gebaut. Über tausend Häuser sind in Sirnak total zerstört.“

Von Panzerwagen aus setzte das türkische Militär den kurdischen Einwohnern eine Frist bis Dienstag 12.00 Uhr, um ihre Waffen abzugeben. Nur wenige kamen der Aufforderung nach. Nach dem Auslaufen der Frist drangen die Militärs ab gestern mittag in jede einzelne Wohnung ein. „Die Guerilla wird gesäubert. Terroristenjagd in jedem Haus“, kündigte das Massenblatt 'Hürriyet‘ die Militäroperation in Sirnak an. Nach Berichten aus der Stadt setzte in den Mittagsstunden eine regelrechte Menschenjagd ein. Bereits Sonntag nachmittag war die gesamte Bevölkerung aufgefordert worden, sich im Fußballstadium zu versammeln.

Mittlerweile herrscht Klarheit über die Umstände des Todes des türkischen Journalisten Izzet Kezer, der am Montag in Cizre erschossen wurde. Sabri Canbeyli, ebenso wie der ermordete Kezer Korreospondent der türkischen Tageszeitung 'Sabah‘, schilderte in einem Gespräch mit der taz den Ablauf: „Wir hatten uns von dem Hotel auf den Weg gemacht, weil wir ganz in der Nähe Kinder- und Frauenschreie hörten. Wir wurden mit schweren Waffen beschossen. Die Anwohner haben uns gerettet, indem sie die Türen ihrer Häuser öffneten und uns hereinließen. Nach einer Weile wurde das Feuer eingestellt. Die Mehrheit in unserer Journalistengruppe war dafür, mit weißen Flaggen zum Hotel zurückzukehren. Wir hatten gerade 20 Schritt zurückgelegt, als ein militärischer Panzerwagen das Feuer auf uns eröffnete. Wir waren direkte Zielscheibe des Maschinengewehrs. Von einer Kugel am Kopf getroffen, brach Izzet zusammen.“ Die übrigen Journalisten retteten sich wieder in die Häuser. „Als wir versuchten, Izzet in ein Haus zu ziehen, eröffnette der Panzer erneut das Feuer auf uns.“ Die Schreie, die die Journalisten bewogen, das Hotel zu verlassen, stammten von den Angehörigen der 12jährigen Seyhan Fisek, die in ihrer Wohnung von Kugeln aus einem Panzerwagen am Kopf getroffen und schwer verletzt worden war.

Zwei bundesdeutsche Staatsbürger, die in Kurdistan festgenommen worden waren, wurden mittlerweile auf internationalen Druck hin wieder freigelassen. Die PDS-Abgeordnete Ulla Jenke und der Mitarbeiter der Hilfsorganisation „medico international“, Roland Ofterdinger, befanden sich gestern auf der Heimreise.

Als Reaktion auf den blutigen Newroz kündigte der Sprecher der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in London, Akif Hasan, den „totalen Krieg“ an. „Es gibt keine andere Lösung als den totalen Krieg mit der Türkei“, sagte der Sprecher der Guerillaorganisation.

Gestern morgen wurde im Istanbuler Stadtteil Zincirlikuyu ein Bus mit Angehörigen des türkischen Geheimdienstes MIT mit Maschinenpistolen angegriffen. Zwei Personen, unter ihnen ein hochrangiger Offizier des Geheimdienstes, starben, sieben weitere wurden verletzt. Bereits am Montag hatten PKK-Militante einige Polizeiwachen und Streifenwagen in verschiedenen westlichen Großstädten der Türkei angegriffen. Das türkische Kabinett unter Ministerpräsident Demirel schwenkte mittlerweile vollends auf die Linie der Falken ein. „Dies ist eine Geschwulst und wir sind stark genug, diese Geschwulst zu entfernen“, sagte Ministerpräsident Süleyman Demirel. Auf einer außerordentlichen Kabinettssitzung wurde der Polizeichef von Sirnak seines Postens enthoben — eine Entscheidung, die nach Auffassung des Innenministers in keinem Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen steht. Im Anschluß an die Sitzung veröffentlichte das Kabinett einen Aufruf an die kurdische Bevölkerung, ihre Waffen abzuliefern. Seither wird diese Erklärung jede Stunde im staatlichen Rundfunk verlesen.