Der Schlimmste der Reaktoren

■ Der Reaktortyp gilt bei Experten als besonders störanfällig/ In bestimmten Bereichen gehen Tschernobyl-Reaktoren der Besatzung leicht aus dem Ruder

Der Atommeiler, in dem es gestern Nacht 80 Kilometer von St. Petersburg zu einem schweren Störfall kam, ist vom gleichen Bautyp wie der Katastrophenreaktor von Tschernobyl. Diese 1000 Megawatt-Meiler, im Fachjargon RMBK genannt, gelten in Fachkreisen als die gefährlichsten sowjetischen AKW überhaupt und als nicht absolut nicht nachrüstbar. Insgesamt stehen in den GUS-Staaten 16 solche großen Reaktoren. Der erst wurde 1973 in Sosnovy Bor in Betrieb genommen. Der Unfallreaktor selbst wurde von 1975 bis 1980 gebaut. Zum Zeitpunkt des Unfalls lief er nach russischen Angaben auf vollen Touren.

Heinz Liemersdorf von der regierungsnahen Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit beklagte gestern lauthals die Unsicherheit der sogenannten Druckröhrenreaktoren. Als britische Ingenieure 1976 den Reaktor bei St. Petersburg inspizierten - er war 1974 in Betrieb genommen und der erste des Typs - machten sie die sowjetischen Stellen bereits auch zahlreiche Mängel aufmerksam. Als Hauptproblem nennt Liemersdorf, daß diese Reaktoren keinen Druckbehälter besitzen, der den Reaktorkern umschließt. Stattdessen ist jedes einzelne Brennelement in einer Druckröhre eingeschlossen, was dem Typ den Namen gibt.

Ein Reaktor, wie der in Sonovy Bor verfügt über 1.690 solcher Röhren mit je einem Brennelement. Wenn bei einem solchen Unfall eine der Druckröhren platze, werde zunächst einmal die Kühlflüssigkeit aus dem Druckrohr frei, erklärt Michael Sailer vom Öko- Institut. Durch den entstehenden Unterdruck würde dann aber auch die direkte Umhüllung des Brennstoffs platzen, sodaß die Radioaktivitätsfreisetzung erheblich größer würde. Zusätzklich könnte das Platzen eines Rohrs schnell andere in mitleidenschaft ziehen und den unfall vergrößern. Die Röhren seien schließlich auf engem Raum zusammengepresst, so Sailer.

Eine weitere Gefahr bildet das Graphit, das die Brennelemente umgibt und als sogenannter Moderator die bei der Kernspaltung entstehenden Neutronen abbremst. Wenn eine Leitung platzt und Kühlwasser austritt, kann bei graphitmoderierten Reaktoren die Leistung noch ansteigen. Hier ist deshalb eine gut funktionierende Schnellabschaltung und Notkühlung noch wichtiger als bei anderen Modellen. Felix Matthes vom Öko-Institut, der den Reaktor im september 1991 noch besichtigte: „Es gibt leistungsbereiche, in denen der Reaktor leicht aus dem Ruder läuft und dann nicht mehr steuerbar ist.“

Deutsche Reaktoren sind demgegenüber mit Wasser moderiert, so der bremer Physiker Otfried Schumacher. Wenn hier Kühlmittel austitt, sinkt die Leistung des Reaktors von selbst. Außerdem ist Graphit brennbar. Wenn es nicht gelingt, die Kettenreaktion nach einem Störfall zu stoppen, kann es dadurch zur Katastrophe kommen, wie der Unfall in Tschernobyl beweist. Hermann-Josef Tenhagen