INTERVIEW
: »So etwas überträgt sich nicht mit dem Badeschwamm«

■ Die Dunkelziffer bei Kindesmißhandlungen ist hoch/ taz-Interview mit Kriminaldirektorin Ellen Karau, Referatsleiterin der Direktion 5

Die Täter bleiben meistens im dunkeln — wenn ein Kind mißhandelt wird, will keiner etwas gemerkt haben. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 1.034 Fälle von sexuellem Mißbrauch an Kindern und 206 weitere Kindesmißhandlungen bekannt, die Dunkelziffer liegt weit höher. Auf einer Podiumsdiskussion über Gewalt gegen Kinder, die vergangene Woche im Frauenselbsthilfezentrum Wedding stattfand, beklagten Mitarbeiter vom Kinderschutzbund, der Familienfürsorge und der Kripo die schlechten Möglichkeiten, von Mißhandlungen zu erfahren und eingreifen zu können.

Die taz sprach mit Kriminaldirektorin Ellen Karau, die an der Diskussion teilgenommen hatte. Die 47jährige ist Kripo-Referatsleiterin der Direktion 5 und war bis 1989 zuständig für das »Sitte«-Referat, das sich mit Sexualstraftaten beschäftigt.

taz: Welcher Fall von Kindesmißhandlung hat Sie in letzter Zeit besonders erschüttert?

Ellen Karau: Mir geht es immer besonders nahe, wenn Eltern ihr eigenes Kind mißbrauchen: Zum Beispiel ein Fall von einem vier Monate alten Säugling, der mit Serienrippenbrüchen, gebrochenem Unterkiefer und Armbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Solche Verletzungen bei Säuglingen kommen nur dann vor, wenn Gewalt im Spiel ist.

Welche Formen von Gewalt gibt es?

Körperliche Gewalt und seelische Gewalt. Körperliche Gewalt ist meist sichtbar, zum Beispiel an blauen Flecken, offenen Wunden oder Striemen. Der Mißhandler ist sehr erfinderisch in den Werkzeugen: Entweder er traktiert das Kind mit Fußtritten und Prügel bis hin zum Ohrabreißen oder Ausreißen von Haaren, oder er nimmt Kleiderbügel, Eisenhaken, Hundepeitschen zu Hilfe — Dinge, die man sich manchmal nicht mehr vorstellen kann. Hinzu kommen die sexuellen Mißhandlungen. Seelische Gewalt ist natürlich nicht sichtbar und schwer nachzuweisen, aber für das Kind genauso verletzend. Eine ganz typische Mißhandlungsform der bürgerlichen Gesellschaft ist der Liebesentzug: Man redet vier Wochen nicht mehr mit dem Kind. Eltern aus sozial schwächeren Schichten schlagen eher zu.

Ab welchem Kindesalter sind Ihnen Mißhandlungen bekannt?

Das fängt bei den kleinsten Säuglingen an und geht durch alle Altersgruppen bis zu Jugendlichen und Heranwachsenden. Das gilt für alle Formen der Mißhandlungen, wobei der sexuelle Mißbrauch, der in der Familie stattfindet, der Polizei selten bekannt wird. Ein Mißbraucher in der Familie wird häufig von den übrigen Familienmitgliedern gedeckt. Oder das Opfer wird, wenn es sich jemandem anvertraut hat, unter Druck gesetzt und sagt dann nichts mehr. Oft ziehen die Opfer sogar die Aussage zurück, wenn es zum Prozeß kommt.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo ein kleines Kind sexuell mißbraucht wurde?

Mir ist ein Fall von einem vierjährigen Mädchen bekannt, das im Krankenhaus behandelt wurde, weil es lange eine Pilzinfektion im Genitalbereich hatte. Solche Infektionen übertragen sich nicht mit dem Badeschwamm. Normalerweise kriegen wir so was nicht heraus. Dabei kann schon eine Infektion im Rachenbereich auf eine Mißhandlung hindeuten, aber daran denken Kinderärzte oft nicht.

In welchen sozialen Verhältnissen kommt Kindesmißhandlung vor?

Ich kann mich nicht erinnern, daß es eine Schicht gab, gegen die wir nicht ermittelt haben. Bei Kindesmißhandlungen sind Frauen und Männer Täter. Bei sexuellem Mißbrauch, wovon Jungen wie Mädchen betroffen sind, sind die Männer in der Überzahl. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wurde jede vierte Frau als Kind mißhandelt. Das wirkliche Ausmaß von sexuellem Mißbrauch in der Familie ist schwer abzuschätzen.

Warum bleiben die Familientäter meistens im dunkeln?

Weil es den Trend gibt, zu sagen, die Familie ist geschützt, da darf die Polizei nicht eingreifen. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Bei den Ermittlungen wird oft bekannt, daß sich die Mißhandlungen über Jahre hingezogen haben und viele davon wußten: Befragte Nachbarn hörten das Kind schreien, betreuende Sozialorganisationen hofften, die Familie würde sich von alleine ändern. Eine Anzeige ist natürlich nicht das Allheilmittel. Aber den Kindern wird der strafrechtliche Schutz vorenthalten. Man gesteht einer erwachsenen Frau, die von ihrem Mann geprügelt wird, doch auch das Recht der Scheidung zu.

Werden Familien- und Fremdtäter vom Gesetz her unterschiedlich behandelt?

Ja. Mir ist da ein Verfahren bekannt, wo der Vater seine Tochter über viele Jahre hinweg sexuell mißbraucht hat. Er ging dabei so vor, daß er zu der Tochter sagte, sie solle mitkommen, sonst prügle er die Mutter. Das Mädchen ging mit, weil es die Mutter abgöttisch liebte, ohne vom Vater körperlich dazu gezwungen zu sein. Der Urteilsspruch fiel mild aus, weil laut Gericht die körperliche Gewalt fehlte. So etwas versteht man heute nicht mehr. Das Sexualstrafrecht muß grundsätzlich neu überdacht werden. Die Anzeigepflicht bei Kindesmißhandlung und sexuellem Mißbrauch, die in der ehemaligen DDR bestand, hätte im Einigungsvertrag ruhig übernommen werden können.

Warum ist es so schwierig, Kindesmißhandlung nachzuweisen?

Mir ist ein Fall bekannt, wo Eltern ihr Kind in sehr seltsamen Situationen fotografiert haben, indem sie es zum Beispiel in die Toilettenschüssel setzten oder kopfüber in einen Eimer hielten. Dieses Kind verstarb im Alter von wenigen Monaten. Als Todesursache wurde plötzlicher Säuglingstod festgestellt, der weithin unerforscht und ein großes Dunkelfeld für uns ist. Das Kind hatte äußerlich keine Verletzungen gehabt, aber wenn man die Bildfolge so sieht, überlegt man sich, was wirklich mit dem Kind passiert sein muß. Die Eltern gingen straffrei aus, weil wir die Fotos erst ein Jahr später durch Zufall in die Hände bekamen.

Oftmals sind selbst Unfälle oder behauptete Unfälle von Kindern verdeckte Kindesmißhandlungen. Die Unfälle werden dann von den Eltern als große Ungeschicklichkeit der Kinder dargestellt. Ein namhafter Gerichtsmediziner hat behauptet, daß jährlich mehr Kinder von ihren Eltern zu Tode geprügelt werden, als Kinder im Straßenverkehr umkommen. Ich würde ihm nach meinen Erfahrungen zustimmen.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sexuellen Mißbrauch zu verhindern?

Man kann Kinder gar nicht früh genug aufklären. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, daß gerade die Familientäter von ihrem Tun ablassen, wenn das Opfer Widerstand leistet. Diesen Widerstand kann man lernen.

Und was müßten Jugendämter, Krankenhäuser und Ärzte tun?

Ein Problem ist, daß Jugendämter der Kripo nach dem Sozialgesetzbuch keine Auskunft geben dürfen, weil Kindesmißhandlung nur ein Vergehenstatbestand und kein Verbrechenstatbestand ist. Da muß man ja auch mal darüber nachdenken — sie dürften nur Auskunft geben, wenn es ein Verbrechenstatbestand wäre. Krankenhäuser müßten sofort bei Verdacht auf Kindesmißhandlung zumindest die zuständige Familienfürsorge einschalten. Mancher behandelnde Arzt sieht darin eine Interessenskollision wegen seiner Schweigepflicht. Das sehe ich anders. Der Arzt muß entscheiden, was höherwertig ist — seine ärztliche Schweigepflicht oder eine Maßnahme zum Wohle eines mißhandelten Kindes. Ein Kinderarzt hat einmal zu mir gesagt, er würde einige Mißhandlungen erkennen, aber nichts dagegen unternehmen, da es so rufschädigend wäre, daß er seine Praxis schließen könnte.

Auch um die Familie müßte sich viel mehr gekümmert werden. Oft wäre eine Therapie notwendig. Bei einer Trennung müßte vom Gesetz her klarsein, daß derjenige, der die Kinder behält, auch die Wohnung bekommt.

Muß die Bekämpfung von Kindesmißhandlung in Berlin verstärkt werden?

In der Ermittlungstätigkeit liegen die Schwerpunkte dieser Stadt woanders. Bei der Sicherheit von U- und S-Bahn, bei Jugendgewaltgruppen und bei Regierungskriminalität. Es müßte ein Umdenken stattfinden weg von der Eigentumskriminalität hin zu körperlichen Delikten. Derzeit gehen brutale Mißhandler straffrei aus, während Ladendiebe dagegen eine dicke Strafe bekommen. Die Schwerpunkte müßten da gesetzt werden, wo die körperliche Integrität des Opfers in Mitleidenschaft gezogen wird. Interview: Corinna Emundts