Jener eine Zoll

Jean-Jacques Annaud hat Marguerite Duras' „Der Liebhaber“ verfilmt. Oder auch nicht.  ■ Von Christiane Peitz

In einer Kirche in Venedig hängt ein Madonna-Bild von Bellini, auf dem die Hand der Maria den Fuß des Jesuskindes beinahe berührt. Ein winziger Abstand. „Jener eine Zoll — ach viel weniger! — ist es, was Liebe von Erotik trennt“, schreibt Joseph Brodsky in seinem Buch Ufer der Verlorenen. Von dieser Liebe, nicht dem hehren Gefühl, sondern der sinnlichen Lust und der Berührung der Körper, erzählt Der Liebhaber. Vom Begehren eines Mädchens, das fünfzehneinhalb Jahre alt ist. Von der ersten Lust, dem ersten Sex.

Das Mädchen und der Chinese. Ein halbdunkles Zimmer, draußen die Hitze, der Lärm von Cholen, dem chinesischen Viertel von Saigon. Sie tun es, das weißnichtwievielte Mal. Heftig, ohne Zärtlichkeit. Sie kennen einander, müssen keine Rücksicht mehr nehmen, sind nicht mehr ängstlich, probieren nicht mehr. Wir sind ganz nah dran. Die Körper lösen sich auf. Nur noch Teile. Lippen. Haut. Poren. Ein Härchen. Ein verwackelter Blick, zerstückelte Leiber. Die Lust kommt sehr schnell.

Es gibt einen Aufsatz von Jan Kott: Kurzer Traktat über Erotik. Darin heißt es: „Während des Aktes werden aus dem Auge und dem Tastsinn fragmentarische Sinne. Das Auge konzentriert sich auf ein Fragment des Körpers: die Augen, den Mund oder die Stirn, den Nacken oder den Bauch. Wir sehen den Körper des Partners in einer anderen Perspektive, aus ungewöhnlichen Winkeln, in verführerischen Großaufnahmen... Der Körper erscheint seziert, atomisiert, von innen her in Besitz genommen und berührt... Die Finger scheinen sich unter die Haut zu schieben.“ ('Lettre International‘, Nr.1).

Jean-Jacques Annaud hat für die Nahaufnahme des Mädchens mit dem Chinesen eine Spezialkamera verwendet, eine Art Endoskop, wie sie die Mediziner für Aufnahmen der inneren Organe benutzen. Die Makrofotografie ermöglicht die Veranschaulichung dieser Atomisierung der Körper beim Liebesakt: Eins-zu- eins-Aufnahmen von winzigen Partikeln. Man kann sehen, was der Tastsinn fühlt. Die Szene dauert 45 Sekunden; die 45 Sekunden kosteten 15 Tage Arbeit, berichtet der Regisseur. Der Aufwand hat sich gelohnt. Auch wenn das Kino gewöhnlich das Gegenteil behauptet: Sinnliche Lust ist selten im Kino. Vielleicht gelingt sie hier deshalb, weil es pure Technik ist. Dieses eine Mal bedient sich Annaud nicht der Maschine der Gefühle, sondern wirft den nüchternen, kalten Blick eines Chirurgen. Präsentiert nicht Leidenschaft, sondern deren Symptome. Oberfläche. Das reine Äußere. Es ist die einzige Stelle, die mich erregt hat. Für einen Film über den Liebesakt ist das zu wenig.

Dabei wünscht sich der Regisseur ausdrücklich, daß der Zuschauer erotisch involviert wird. Warum es ihm so wenig gelingt, dafür lassen sich drei Gründe nennen. Annauds erstes Problem ist Marguerite Duras. Während der Dreharbeiten hat er sich mit ihr zerstritten. Sie hat ein eigenes Drehbuch geschrieben, das in Frankreich unter dem Titel L'Amant de la Chine du Nord erschienen ist und den Regisseur öffentlich kritisiert. Der wiederum insistierte völlig zu recht darauf, daß es zwar ihr Roman sei, aber sein Film; daß er nicht ihre Visionen, sondern nur seine Bilder zeigen könne. Aber das Problem ist grundlegender: Duras schreibt abwechselnd „sie“ und „ich“, und dieses fiktive Ich ist wesentlich das biographische Ich der Marguerite Donnadieu, die sich erst später Duras nannte. Anders als bei Der Name der Rose hat Annaud es also mit einer authentischen Person zu tun und einer Liebesgeschichte, die wirklich stattgefunden hat: der verbotenen Liebe zwischen der 15jährigen Marguerite und ihres 27jährigen chinesischen Liebhabers, der nach Familientradition eine Chinesin heiraten mußte und vor zwei Jahren gestorben ist (was Duras von Annaud erfuhr). Mit gigantischem Aufwand (Budget: 40Millionen DM) hat er original in Vietnam gedreht, im echten Saigon, am echten Mekong, mit einer echten Limousine, der berühmten Morris Leon-Bollée aus dem Roman, und einem echten Ozeandampfer für die Abreise, dessen Bereitstellung allein 1,3Millionen DM gekostet hat. Unentwegt bemüht sich Der Liebhaber um Authentizität. Roman-Stellen werden im Off zitiert (im Original von Jeanne Moreau), nicht selten bestätigen sie nur. Seht her, die Bilder lügen nicht. So radikal, wie Annaud während der Dreharbeiten mit der Schriftstellerin Marguerite Duras gebrochen hat, so halbherzig verfährt der Film mit der Marguerite Donnadieu von 1929: Er will es ihr recht machen. Ein schüchterner, ängstlicher Liebhaber, der dem Mädchen nicht zu nahe treten will. Außer in den 45 Sekunden.

Zweitens, und das ist entscheidender, erzählt Duras in ihrem Roman zwar von ihrem ersten Begehren; Annauds Film hingegen zeigt das Mädchen als das begehrte Objekt des Mannes. Im Roman beschreibt Duras sich selbst, stellt sich vor, wie sie aussieht, imaginiert sich selbst mit den Augen eines anderen. Das Aufregende im Roman sind nicht etwa „obszöne Stellen“. Duras wird gar nicht explizit, im Gegenteil: Immer wieder berichtet sie über die Schwierigkeit, sexuelle Erfahrung überhaupt in Worte zu fassen. Ihren ersten Orgasmus faßt sie in eine, nicht einmal sonderlich originelle, Metapher: „Zuerst ist der Schmerz da. Dann wird dieser Schmerz genommen, wird umgewandelt, langsam herausgerissen, der Lust zugeführt, mit ihr vereint. Das Meer, formlos, einfach unvergleichlich.“ Das Aufregende ist die Geste der Mitteilung selbst, dieses Von-sich-Erzählen. Der Liebhaber verweigert nicht nur das beruhigende Wissen, daß es ja „nur“ Fiktion ist, er kündigt vielmehr die gesellschaftliche Übereinkunft auf, daß man so über sich selbst nicht ungeschützt öffentlich spricht. Duras erlaubt uns, ihr zuzusehen: Das ist der Skandal.

Dem Film ist diese Geste naturgemäß fremd, denn in ihr liegt ja das Wesen des Kinos begründet: Wir schauen ohnehin zu, wo wir nicht dabei sind. Im Kino ist das nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Aber die Grenzen sind deutlich abgesteckt. Kino sieht immer von außen, mit den Augen eines anderen. Und die da agieren, markieren ja nur. Irritierend an Annauds Liebesszenen ist höchstens die Frage, was dabei wirklich zwischen den beiden Schauspielern gewesen ist. Aber man braucht sich nur Kulisse und Filmcrew zu vergegenwärtigen, um einer enttäuschenden Antwort gewiß zu sein: In Annauds Der Liebhaber teilt niemand etwas von sich selbst mit. Die Selbstentäußerung der Duras, und sei sie noch so verhalten, wird in den schützenden Rahmen des Spielfilms, der Fiktion zurückgenommen. Von der Lust des Mädchens, dem Wechselspiel zwischen Begehren und Begehrtwerden, hat der Film keine Bilder, nur davon, was der Liebhaber, der Zuschauer sieht: die Schauspielerin Jane March. 17 Jahre alt, ein Model. Die Zöpfe unter dem Männerhut. Den zu dick geschminkten Kindermund. Die hohen Wangen, die ihr asiatische Züge verleihen. Der unsichere Gang auf den mit Straß besetzten hochhackigen Schuhen. Das berühmte Kleid aus Rohseide, das sie weniger kleidet als nackt erscheinen läßt. Der schmale Körper, die zerbrechliche Gestalt, die langen Glieder, weiche Haut, der kleine Busen, der Schamhügel.

Was Jane Marchs Nacktheit angeht, kennt Annaud kein Tabu. Was den Liebhaber angeht, schon. Das Geschlecht des chinesischen Filmstars Tony Leung bleibt verhüllt. Als das Mädchen zum erstenmal mit ihm schläft, sieht man, wie er sie auszieht und dann folgt, aus dem Off zitiert, die Romanstelle, wie sie ihn auszieht: „Sie berührt ihn. Sie berührt die Zartheit seines Geschlechts, seiner Haut, sie liebkost seine goldgelbe Farbe, das unbekannte Neuland.“ Im Film schiebt sie ihm nur die Hand in die Hose, eine Prüderie, die im Zusammenhang unfreiwillig komisch erscheint. Vielleicht gibt es ja ein Gesetz, das die vollständige Ansicht einer nackten Frau im nichtpornographischen Kino gestattet, die eines Mannes aber nicht. Zumindest hält Annaud sich an die Konvention, und schon deshalb bleibt der größte Teil der Liebesszenen in Der Liebhaber konventionell.

Annauds drittes Problem ist konstitutionell: die Schwierigkeit, von dem, was beim Liebesakt geschieht, ein Bild zu machen. Man kann die Körper zeigen, die Stellungen, die Bewegungen. Aber das reduziert das Begehren auf den Sex und den Sex auf die Technik. Man kann sich in Andeutungen ergehen, den berühmten Schnitt machen von den Schuhen, die abgestreift werden zur im Morgenlicht wehenden Gardine. Aber das verlegt das Bild in die Phantasiewelt des Zuschauers und schließt die Intimsphäre als Tabuzone von der öffentlichen Zurschaustellung, vom Kino also, aus. Ein Tabu, das das Kino in der Regel wahrt. Jener eine Zoll auf dem Bellini-Bild ist gewissermaßen der gesetzlich vorgeschriebene Abstand, und man muß es Annaud hoch anrechnen, daß er wenigstens versucht hat, dieses Gesetz zu brechen. Bloß die Mittel, derer er sich bedient, bleiben im Rahmen: Er will die Norm sprengen und wahrt dabei die Form. Der Liebhaber präsentiert Bilder von klassischer Schönheit, sanftes Licht, wohlproportionierte Körper, perfekt komponierte Einstellungen. Das Übliche. Fast so, als könne Annaud sich nicht damit abfinden, daß es nicht um Verliebtheit geht, sondern um die fälschlicherweise sogenannten niederen Instinkte. Bei Duras riecht die Haut (und sie riecht gut), bei Annaud ist sie nur glatt. Den Mut, häßlich zu werden — ein Mut, der wahre Schönheit erst ermöglicht —, hat er nicht. Deshalb bleibt sein Liebhaber so seltsam unsinnlich, unwirklich und körperlos.

Bis auf die 45 Sekunden. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die Zerstückelung der Bilder in diesen wenigen Augenblicken ästhetisch der Sprache von Duras am nächsten kommt. Den knappen Sätzen, den Wort-Wiederholungen. Dem Springen zwischen den Zeiten und den Themen. Der Roman handelt außer vom Liebhaber von der Gewalt in der Familie, der kranken, kaltherzigen Mutter, dem brutalen älteren Bruder und dem geliebten jüngeren Bruder, der stirbt. Erste Liebe, Gewalt und Tod: Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar. Duras hat ihn damals überlebt, indem sie, mit 15 Jahren, beschloß zu schreiben. Annaud ebnet den Kontrast ein: Zwar gelingt es ihm ein-, zweimal, die mörderische Atmosphäre in der Familie einzufangen, aber mit Bildern von der Gewalt verschont er uns. Und der Tod des Bruders wird lediglich knapp erwähnt. Er paßte ihm wohl nicht in den Rahmen.

„Filmen ist für mich ein Mittel, etwas zu verstehen; das traf auf Afrika zu, auf das Mittelalter, den Instinkt des Säugetiers, es trifft auch auf das Universum Frau zu“, sagt Annaud über seine Filmographie — von Am Anfang war das Feuer über Der Name der Rose und Der Bär bis zum Liebhaber. Der Satz verrät den kolonialistischen Blick: Man sieht nur, was man kennt, versteht nur, was man schon verstanden hat. So schrumpft das Universum zu einem überschaubaren Gegenstand: ein Objekt der Betrachtung. Eine gewisse Distanz muß dafür schon gewahrt bleiben.

Jean-Jacques Annaud: Der Liebhaber. Nach dem Roman von Marguerite Duras, Drehbuch: Gérard Brach, Kamera: Robert Fraisse. Mit Jane March, Tony Leung, Frankreich/Großbritannien, 112 Minuten.