Analphabetin mit Spritze

■ Dem kleinen Bundesstaat Céara ist es gelungen, seine Säuglingssterblichkeit um ein Drittel zu senken

Fünf Jahre nachdem die Landesregierung des Bundesstaates Céara im brasilianischen Nordosten mit dem Programm „Viva Crianca“ (Es lebe das Kind) begann, ist die Säuglingssterblichkeit um ein Drittel zurückgegangen. Die außerordentliche Leistung trug dem Gouverneur von Céara, Ciro Gomes, ein Lob der UNO-Kinderorganisation UNICEF ein: „Das Leben der Kinder in Céara ist nicht perfekt. Doch die Regierung ist aufrichtig um ihre Gesundheit bemüht. Wo diese Verpflichtung existiert, ist eine revolutionäre Änderung im Gesundheitssektor möglich“, heißt es im UNICEF-Bericht zur „Weltweiten Lage der Kinder“.

Céara ist einer der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens. Die Hälfte seiner rund sechs Millionen Einwohner verdient weniger als den monatlichen Mindestlohn, 80 Prozent der Landbewohner verfügen weder über Wasser noch über Strom, die Analphabetenrate liegt bei 40 Prozent.

Das Rezept zur Senkung der Säuglingssterblichkeit kam aus China. Die „Barfußärzte“ aus dem Reich der Mitte regten vor Jahren den Gouverneur Tasso Jereissati an, auch in Céara mobile Pflegekräfte einzusetzen. Statt wie üblich „Arbeitsfronten“ für dürregeplagte Kleinbauern im Landesinneren zu eröffnen (siehe Artikel), ließ er 1987 über 6.000 Frauen im Bereich Erste Hilfe und Säuglingspflege ausbilden. Diejenigen Frauen, die nach dem Ende der Trockenperiode die besten Resultate aufwiesen, wurden weiter geschult. Mittlerweile kümmern sich 4.000 Pflegerinnen, genannt „Agente de Saude“, direkt vor Ort um die Gesundheit von Schwangeren und Kleinkindern. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, daß die Zahl der Säuglinge, die das erste Lebensjahr nicht vollenden, von 95 auf 60 pro 1.000 Neugeborene gesunken ist. Die Voraussetzungen, um als „Agente de Saude“ zu arbeiten, sind einfach: Die Bewerberinnen— 95 Prozent der Helferinnen sind Frauen — müssen seit mindestens fünf Jahren in der Gemeinde wohnen und mindestens 18 Jahre alt sein. Auch Analphabetinnen werden angenommen. Ausgestattet mit Babywaage, Fieberthermometer, Serum, Antibiotika und Karteikarten, machen sich die uniformierten Pflegerinnen auf den Weg — per Kanu über Flüsse, über die Berge auf Eseln und lange Strecken zu Fuß. Für einen Mindestlohn besuchen sie im Monat zwischen 80 und 250 Häuser.

„Das größte Problem ist die Hygiene“, erklärt Helferin Antonia Lucimar. „Viele Leute haben keine Toilette im Haus und vergraben ihre Notdurft nicht im Garten“. Regelmäßig entlaust die 40jährige aus dem Dorf Maranguape die Haarschöpfe der Kinder. Sie ermuntert die Mütter zum Stillen, bringt ihnen bei, wie sie mit einer Zuckerlösung der Unterernährung vorbeugen können, und führt Mutter und Kind zur Impfung und Krebsvorsorge zum nächsten Gesundheitsposten.

„In meinem Bezirk gibt es keine unterernährten Kinder mehr“, versichert ihre Kollegin Francisca Bezerra Luiz, die seit eineinhalb Jahren dabei ist. Es dauerte lange, bis die 26jährige die Mütter zum Stillen überreden konnte. „Viele gaben vor, sie hätten keine Milch. Doch das ist pure Eitelkeit. Die Frauen haben Angst, ihre Form zu verlieren.“

Die Ärzte, die sich auf den ländlichen Gesundheitsposten normalerweise nur alle vierzehn Tage blicken lassen, beäugten die Arbeit der Pflegerinnen zunächst mißtrauisch. „Wenn ein Analphabet Spritzen verabreicht, kratzt er am Mythos der Götter in Weiß“, meint die Ärztin Dirlene Silveira in Maranguape. Doch die positiven Ergebnisse in nur fünf Jahren haben die Kritiker zum Schweigen gebracht.