Aktueller Fehldruck

■ Eine Uraufführung in Bonn

Schein und Wirklichkeit, Sieg der Simulation über die Realität, Beschleunigung der Lebenswelt, Macht der Medien, Aufstand der Erinnerung: ein Theaterstück, das auf dieses dicke Bündel von Zeitgeistthemen zielt, muß ja irgendwo unser Bewußtsein treffen, denkt sich die Gegenwartsdramatikerin. Jedoch, der Pfeil kann auch schon vor dem Ziel zu Boden trudeln. Doris Reckewell hat scharf gezielt und schwach geschossen.

Der Anfang versucht mit Witz und Tempo ein zeittypisches Milieu zu zeigen: die Dokumentationsabteilung eines großen Pressehauses. Zwischen Zeitungsstapeln und Computern die übliche Arbeitshektik mit Betriebstratsch und den kleinen Katastrophen. Ein lockeres Stimmengewirr mit kleinen Pointen und einem Interesse an alltäglichen Absonderlichkeiten fast wie bei Botho Strauß. Doch dann treten die Kontrahenten auf: Dr.von Huftenberg, Abteilungsleiter im Verlag und Lieferant für Medientheorien (im Stück), und Burkhardt, neueingestellter Archivmitarbeiter und zuständig für Individualität (im Stück). Huftenberg klärt uns ohne Umschweife auf: „Was in diesem Computer nicht gespeichert ist, ist nicht Realität.“ Und Burkhardt küßt freundlich die Hand der Dokumentaristin.

Was folgt, hat die unwahrscheinliche Logik eines mittelmäßigen Krimis: Burkhardt entpuppt sich als egomanischer Dokumentationsfanatiker, sein Lebensziel ist die lückenlose Archivierung jedes Momentes seines Lebens, ein Diarist des Medienzeitalters, ein später Nachfolger Henri-Frédéric Amiels, des Genfer Tagebuchrekordhalters (16.900 Seiten), und ein geistesverwandter Alfred Dorns, des Helden von Martin Walsers neuestem Roman Die Verteidigung der Kindheit. Dem objektiven Gedächtnis des Zeitungsarchivs setzt er sein subjektives aus Tagebuchnotizen, Fotos und Erinnerungsstücken entgegen. Doch jeder Sammler weiß: die Speicherkapazität ist das Problem. So wird der brave Eigenbrötler zum kriminellen Hakker. Er zapft den Großcomputer an und legt seine privaten Kuckuckseier in das große Nest der Zeitgeschichte. Das verdatete Tages- und Weltgeschehen wird außerdem auch atomkriegsicher eingelagert in einen Bergwerksstollen. So schmuggelt Burkhardt seinen privaten Erinnerungsmüll in die Ewigkeit. Doch da sei Dr.Huftenberg davor, der Medientechnokrat: Burkhardts Manipulationen werden aufgedeckt, er wird entlassen, seine Rache schlägt natürlich fehl. Sein Schuß auf Huftenberg bleibt im Sicherheitsglas stecken. Die simulierte Medienwirklichkeit ist unangreifbar. Die Lebenswirklichkeit des Einzelnen ist machtlos.

In ihrem ersten aufgeführten Theaterstück bewährt sich Doris Reckewell als gelernte Journalistin. Mit abwechslungsreichem Vokabular präsentiert sie das Ergebnis ihrer Recherche. Immer wieder sagt einer zum anderen: „Wie Sie ja wissen“ oder „Das wußten Sie nicht?“ oder „Rekapitulieren wir“. Gelegentlich fällt auch die elegante Floskel „Apropos, zum Thema“, und dann werden wir mit allen nötigen Informationen versorgt.

Doch damit nicht alles nur verbal vermittelt wird, gibt es auch eine bedeutungsschwere, wortlose Szene: Während die Zeitungsleute an ihren Terminals die Wirklichkeit erschaffen, taucht draußen vor dem Fenster eine vergewaltigte Frau auf und fleht stumm um Hilfe. Keiner bemerkt sie. Drinnen ist nur wahr, was in der Zeitung steht. Und die erscheint erst morgen.

Der Regisseur Gerd Heinz, früher Schauspieldirektor in Zürich, ist Ehemann der Autorin. Die Inszenierung ist werktreu. Alle Schwächen werden deutlich sichtbar: die lückenhafte Motivierung der Handlung, die belehrende Geschwätzigkeit, die Flauheit der Pointen. Karsten Gaul darf als Huftenberg ein aasiger Thesenträger im wunderbar knallblauen Anzug sein, und Isis Krüger kann als Anführerin der Computerdamen ihr frisches Gesicht und ihre durchtrainierte Figur zeigen.

Die Hauptlast des Stückes aber muß Helmut Grieser als Burkhardt tragen. Weder das Stück noch die Inszenierung wissen, ob er der skurrile Hampelmann oder der tragische Held des Stückes sein soll. Im zweiten Teil, nach der Aufdeckung seiner Verewigungswut, will das Stück ihn rechtfertigen, ihn uns als verzweifelten Protagonisten des Kampfes gegen die falsche Medienrealität, für die Errettung der menschlichen Seele ans Herz legen. Doch auch wenn er seitenweise exquisit formulierte Gedenkblätter für seinen toten Freund vorliest, bleibt er ein Papiergeschöpf, ein Thesenkonstrukt.

Das Stück will uns vom Lachen zum Entsetzen führen und führt uns doch nur vom Belächeln zum Bedauern. Gerhard Preußer

Doris Reckewell: Abdruck. Schauspiel Bonn (Kammerspiele Bad Godesberg). Inszenierung: Gerd Heinz. Bühne, Kostüme: Stefanie Seitz. Mit: Helmut Grieser, Karsten Gaul, Isis Krüger. Weitere Vorstellungen: 31.März, 7., 14., 22. und 30.April.