Auf dem Gedankenstrich

■ Walter Kempowski las in der Stadtwaage aus dem neuen Roman „Mark und Bein“

Mein Gott, was für ein Abend. Der gesamte mittlere Mittelstand hat seinen Schottenrock und den guten Peek & Cloppenburg-Pullover angezogen und läßt sich im Prachtsaal der Stadtwaage von Sätzen ergreifen, die haben die Butter nicht auf dem Brot verdient. Au, könnte glatt von Kempowski sein, ein Autor, der eigentlich keine müde Zeile verdient. Schließlich ist man gestraft genug vom Zuhören und von dieser Stimme, die klingt, als wenn ein Wolf erst Schmirgelpapier und dann Kreide gefressen hätte. Und ausgerechnet von Kempowskis Erleben leben zu müssen ist für notorische Beobachterinnen bitter. Aber ohne sein Publikum kein Dichter. Also achten wir auf einen, der gesundes Volksempfinden auf den Gedankenstrich schickt.

Walter Kempowski, Dorfschullehrer mit Bautzen-Vergangenheit, der '71 mit dem ersten Band seiner „Deutschen Chronik“, „Tadellöser & Wolff“, buchclub-berühmt und zum chronischen deutschen Chronisten wurde, hat ein neues Buch geschrieben: „Mark und Bein“. Ein Protagonist Jonathan, Zeitungsschreiber, soll, kurzgefaßt, einen Rallye-Führer durch „Ostpreußen“ schreiben. Polen, Sie erinnern sich, „also eigentlich deutsche Lande“. Ein Unterfangen, das uns munter plaudertönend mit „einfältigen“ Polen konfrontiert, schlammgeborgenen Wehrmacht-Soldaten und Wehrmachtsautos, die an der „Weichsel ihr Letztes gaben“, wo noch „deutsche Häuschen deutsche Veranden“ hatten. (Ist nicht spätestens seit Theweleit bekannt, daß das auktoriale Zusammenbringen von Schlamm und Mann besser unterbliebe, will mann sich nicht zu sehr in seine Männerphantasie blicken lassen?)

Gespickt ist dieses armselige Handlungsskelett mit quergestreiften Strickröcken einer Ulla, „in deren Gesicht das Leben sich nicht gesetzt hatte“, die liebkost wird, „als würde man Toten die Augen zudrücken“. Am besten gefallen haben mir allerdings die „Küsse wie feurige Geldstücke“. Ach, lodernde Münzen! Da jault die Vorstellungskraft und legt die Ohren an.

Unser Jonathan düst also gen rohem Osten, wo er sich unwohl, weil als „Gast fühlt“ und alle wieder finden, man habe „Juden ermordet und Holländern Fahrräder geklaut“; wo polnische Babies rosa Teddies lieben und Kaukasier ranzige Butter. Polinnen sind im Prinzip nicht schlecht, wenn sie bloß nicht „so auseinandergehen würden nach drei Jahren“! Drei! Dafür geben sich Polen in Hamburg reichlich forsch — aber zuhause keine neue Fähre bauen können!! Gottseidank ist ja das KZ geschlossen, das man in den Rallyeführer aufnehmen will — hätten einen die Museumsführer bloß wieder „ausgelümmelt“ (oder war's angelümmelt?), eben wegen der Morde. Zum Schluß kommt raus, daß irgendein Vater, womöglich der Kempowski'sche selber, im Ostseesande als Stäubchen unauffindbar ist.

Vors Signieren und den zu stürmenden Büchertisch ordert der Autor vom anwesenden Volke noch Todesnachrichts-Briefe von der Front und auch sonst Kriegs-Aufzeichnungen aller Art für seine Materialiensammlung in Nartum. Die braucht er, um dem Volk zu Hause aufs Maul schauen zu können. Zum Dank „signiert er auch Taschenbücher“. Eine Dame entschuldigt sich für die Abgegriffenheit ihres Büchleins, was bei manchen Büchern ja wirklich verwerflich ist. Der Herr neben mir findet, daß „das was war hier heute abend“, vermutet Autobiographisches und war auch schon in Kempowskis Geburtshaus in Rostock. Daß es das gibt! claks