»Frühjahr« oder»Frühling«?

■ Was ist Frühling? Woher kommt Frühling? Und wo bleibt er, der Frühling?/ Schon seit Jahrhunderten bringt er neben Wärme auch Kälte, Regen und erfrorene Pflanzen

»Frühling« kommt von »früh«. Verblüffende Erkenntnis, nicht wahr? Und das kommt daher, weiß mein Wörterbuch, weil der Frühling das »frühe Jahr« bezeichnet. Wer jetzt kombiniert und glaubt, »Frühjahr« müßte das ältere Wort für unseren heutigen »Frühling« sein, der irrt. Frühling, präziser »vrüelinc«, gab es schon vor fünfhundert Jahren im Mittelhochdeutschen, Frühjahr ist erst dreihundert Jahre alt. Schon verwirrt vom Frühling? Das wäre gar nicht so untypisch. Diese Jahreszeit mit ihren extremen Temperaturschwankungen schwächt die Konzentrationsfähigkeit und erhöht die Fehlerquoten drastisch.

Vollständigkeitshalber soll aber noch schnell der »Lenz« (lange Tage!) erwähnt sein. Immerhin die — jetzt wirklich — älteste deutsche Bezeichnung für die Übergangszeit vom Winter zum Sommer. Der Lenz wurde jedoch auf die höhere — die dichterische — sprachliche Ebene abgeschoben. Nur wahre Poeten wagen es, vom Lenzmonat zu sprechen oder den siebzehn Lenzen, die ein Mädchen alt ist.

Bei unserer momentanen Wetterlage reicht jedoch ein ordinäres »Frühling« aus, um böse Blicke zu ernten. Alldieweil ihn viele vermissen — und damit vermissen sie einen Mythos. Außer Sonne, Wärme und Blumen bringt der Frühling seit Jahrhunderten auch Regen, Kältefronten und erfrorene Pflanzen. Fünfzehn Nächte mit Frost pflegt der März im Durchschnitt zu haben — überrascht? Der Frühling ist eben eine Übergangszeit — aber er betont, so mein Wörterbuch, »die gefühlsmäßige Seite der Jahreszeit«. Man sollte in diesen Tagen also unterscheiden, wie es schon Frater Stolberg getan hat: »Das Frühjahr ist kommen, der Frühling noch nicht, noch macht die Natur uns ein saures Gesicht.«

Vielleicht aber liegt alles an unserer fehlenden Hingabe. Vielleicht begrüßen wir diese Jahreszeit des allgemeinen Erwachens einfach nicht mehr mit der ihr gebührenden Euphorie — im Mittelalter war die Ankunft des Frühlings immerhin noch ein spontanes Fest wert. Der glückliche Entdecker des ersten Veilchens oder des frisch aus südlichen Gefilden eingetroffenen Storchs schrie: »ich han den sumer vunden«, und das ganze Dorf jubelte mit. Das erspähte Frühlingsblümchen wurde auf eine Stange gesteckt, und alles tanzte drumherum.

Oder es fehlt uns hier im Norden Deutschlands an Tradition. In südlicheren und östlichen Regionen Europas gibt es zum Frühlingsbeginn so vielversprechende Sachen wie »Todaustragen«, bei dem eine Strohpuppe gesteinigt, ertränkt oder verbrannt wird, oder das freundlichere »Sommereinbringen«. Besonders in Schlesien werden singenderweise Bäumchen, die mit Bändern geschmückt und mit Eierschalen und Brezeln behangen sind, von Haus zu Haus getragen.

In der Pfalz und im Odenwald gibt es heute noch richtige Streitspiele mit einem Puppenkampf zwischen dem Sommer und Winter. In Forst bei Deidesheim gibt es sogar eine dramatisierte Spielform, die auf eine vierhundert Jahre alte Tradition zurückgeht. In Eisenach kämpft »Frau Sunna« mit Elfen gegen »Herrn Reif« mit Eismännern. Immer aber gewinnt der Sommer, und die symbolische Winterpuppe wird ohne Respekt oder Furcht vernichtet.

Daß der Frühling oft so einen Ärger macht und nur zögerlich daherzukommen scheint, liegt vielleicht auch daran, daß wir uns zu viel von diesem 21. März erwarten. Weil es den Termin gibt, denken wir, daß er auch dann auf einen Schlag da zu sein hat, der Frühling. Dabei hat er aus rein meteorologischer Sicht schon längst Anfang März begonnen, denn Dezember, Januar und Februar sind die kältesten Jahreszeiten. Der Frühlingstermin als solcher ist astronomisch berechnet. Sternenkundler sprechen von »Tagundnachtgleiche«, weil, wie am 23. September auch, Tag und Nacht gleich lang sind. Das wäre doch auch ein Grund zu feiern. Denn die Nächte werden ab dato kürzer, es bleibt länger hell. Aber in Berlin bleiben die Anlässe ungenutzt. Und der Frühling weg.

Die Phänologie (Wissenschaft von den jahreszeitlich bedingten Erscheinungsformen bei Tier und Pflanzen) unterscheidet übrigens »Vor«- und »Voll«-Frühling. Ersterer beginnt mit der Schneeglöckchenblüte, der volle Frühling mit Apfel- oder Fliederblüte. Was wann blüht, könnte ganz wichtig sein für diejenigen, die sich im (Frühlings-)Zaubern üben wollen. Es gibt da in meinem »Wörterbuch des deutschen Aberglaubens« mehrere Hinweise. Wer die erste gesichtete Anemone zu sich nimmt, dem wird zum Beispiel ein fieberfreies Jahr versprochen. Wer keine Sommersprossen bekommen will, sollte nicht am ersten Enzian riechen, und der erste Kuckucksschrei verrät die noch zu erwartenden Lebensjahre.

Die Wettermediziner geben da wesentlich banalere Tips. Weil das Frühjahr mit möglichen Temperaturschwankungen von bis zu fünfzehn Grad am Tag den Organismus sehr belastet, einfach Vitamine essen und vor allem viel bewegen. Aber der Schwung kommt ja fast von allein, schreibt mein Wörterbuch, ist dies doch für Mensch und Natur die Jahreszeit des »Aufbruchs und der Freude«. Aber das bezieht sich auf den Frühling. Und den vermissen die Berliner. — Vielleicht sollten wir ihn einfach festlicher empfangen! Sonja Striegl