piwik no script img

Chicago am Schwielowsee

■ Der unermüdliche Tippelbruder und literarische Spürhund Theodor Fontane kannte die Mark wie seine Westentasche. Jede havelbucht war ihm vertraut. Günter Ermlich setzte sich aufs Rad und erlebte während seiner...

Der unermüdliche Tippelbruder und literarische Spürhund Theodor Fontane kannte die Mark wie seine Westentasche. Jede Havelbucht war ihm vertraut. GÜNTER ERMLICH setzte sich aufs Rad und erlebte während seiner Landpartie nicht nur literarische Erinnerungen.

B

ahnhof Potsdam-Stadt. Bald endlich auch wieder S-Bahnhof. Bauarbeiter an der Bahnstrecke arbeiten mit Hochdruck, damit nach zweieinhalb Jahren Wendezeit endlich zusammenwächst, was zusammengehört: Die erste S-Bahn-Anbindung Berlins mit dem Umland und umgekehrt.

Von Potsdams Langer Brücke, lang und auto-toll, werfen wir einen ersten Blick auf den „aparten Fluß“, die Havel, „dieser Form nach der Flachland- Neckar“ (Fontane). Im Hintergrund die merkwürdige Himmelslinie von Potsdam, ein Jahr davor (dem tausendjährigen Stadtjubiläum): das einsam aufragende Ex-Interhotel, die Kuppel des Doms, der Bauzaun, hinter dem bis vor kurzem das unvollendete, dann abgerissene Hansa-Theater stand.

Z

wei Vermessungsbeamte lassen ihre Meßlatten einen Moment in Ruhestellung. „Wo wollen Sie denn hin?“ fragt der Ältere den zögerlichen Mann mit Fahrrad. „Nach Caputh!“ Sie stutzen kurz. „Ah, nach Caputh!“ wiederholt der Ältere und zieht das u wie ein Kaugummi in die Länge. Der da aus der Fremde kam, ist entlarvt.

Hinter der langen Brücke also Rechtsschwenk in die „Leipziger Straße“. Das Straßenschild ist in die Jahre gekommen. Auf einem Betonplattenweg radeln wir durch die Templiner Vorstadt, dann in Tuchfühlung zum Templiner See. Gibt das Internationale Olympische Komitee seinen Segen für Berlin 2000, sollen hier die Einer, Zweier, Vierer mit und ohne, der Achter das dreckige Havelwasser für einige Tage in beschlag nehmen. Rechter Hand durchschneidet ein breiter Eisenbahndamm den See in zwei Hälften, linker Hand — am Hang — liegt das Forsthaus Templin, eine große Ausflugsgaststätte alter Machart. Montag und Dienstag Ruhetag. Heute ist glücklicherweise Freitag. Auf dem integrierten Spielplatz wippen und schaukeln Kinder nach Herzenslust. „Geschirrablage, Bestecke bitte extra!“ steht auf dem Schild an der noch leergefegten Terrasse. Wenigstens beim Bier hat hier die deutsch-deutsche Vereinigung geklappt. Die Reklameschilder von Kindl-Bier (West-Berlin) und Rex-Pils (Potsdam) prangen einträchtig am Eingang. Und die gute alte Soljanka hat die Wende auch überlebt.

E

ndgültig wachen wir an diesem lauen März-Morgen in Caputh auf. Im „Chicago des Schwielowsees“ (Fontane) pflastern übelste Kopfsteinpflaster unseren Weg. Weh dem, der zartbesaitete Räder untergeschnallt hat. Ach Radlerherz, zügle deine Asphaltbesessenheit! Kopfsteine machen doch gerade einen Teil dieses unverkennbaren Dorfcharmes aus, wie in Ferch und Werder auch. Kampf der Glattbügelungs„kunst“ westlicher Couleur: breite, autogerechte Ortspassagen, Bäume weg, Ampeln drauf.

„Am Waldrand 3“ war die Adresse Albert Einsteins in den Jahren 1929 bis 1933. „Hier lebte und arbeitete er in den Sommermonaten“, steht auf der Gedenkplatte an der Hauswand des Sommerhauses aus dunkelbraunem Holz. Der Hausmeister in blauem Kittel schlurft zur Mülltonne. Er hat Zeit für ein Schwätzchen. Seit dem 1. Januar stehe er in den Diensten des Brandenburger Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, dem das Haus jetzt gehöre. „Der Rat der Gemeinde Caputh wollte daraus gerne ein Museum machen“, erzählt er. Aber Einstein wollte ja hier keine Erinnerungsstätte haben. Immer mehr Touristen kämen in letzter Zeit. Gleich müsse das ZDF-Team kommen, „das interessiert sich auch für das Haus“. Auch bildungsbeflissene Passanten führe er manchmal in den Garten. Von der Rückfront mit Holzstiege („Da oben war Einsteins Schlafzimmer!“) könne man einen schöneren Schnappschuß machen.

D

as alte Barockschloß, noch in bemitleidenswertem Zustand, ist in die Stiftung Schlösser und Gärten von Potsdam-Sanssouci übergegangen. Zwei einsame Schubkarren bilden an diesem Morgen das Stilleben im Hof der Dreiflügelanlage. An der Uferpromenade ist es entschieden lebendiger. Im Dauereinsatz kreuzt die alte Seilfähre von 6 bis 20 Uhr das Havelgemünde. Die Fährfrau hat heute wohl ihren garstigen Tag. Sie blickt verkniffen kurz von ihrer Zeitung hoch und zischt: „Der PKW dort drüben wird jetzt abgeholt!“ Sprichts und legt los. In der Gaststätte „Altes Fährhaus“, sagen die Alten, habe Einstein regelmäßig aufgetankt. Der „Funny Ferry“-Kiosk nebenan liegt noch im Winterschlaf. Ein älteres Paar pflanzt liebevoll Stiefmütterchen in die Blumenrabatten. Zum Abschluß tränkt sie der Mann mit einigen Gießkannen Havelwasser. An der „Futterstelle“ wirft eine alte Frau den Schwänen und Enten Brotkrumen zu. Sie setzt sich auf eine Bank und, als sie sich unbeobachtet fühlt, läßt sie ihre Arme mehrmals nach vorne und hinten über den Kopf kreisen, streckt sie nach vorne und zieht sie wieder heran. Derweil holt die Fährfrau ein „Holsten-Bierauto“ herüber, nachdem sie einen „Marlboro“-Kombi hinübergeschifft hat. Erste Vorsaison- Touristen nahen. Eine Radfahrerin, Endzwanzigerin, mit vollen Gepäcktaschen, ignoriert das „Radfahrer absteigen!“ und rollt entlang der Uferpromenade. Ein Partner stellt seine Partnerin mehr oder minder fotogen in Video-Positur vor die arme Fährfrau. Noch herrscht Touristen-Ebbe. Aber Caputh, traditioneller Ausflugsort der Berliner seit der Jahrhundert-Wende, wird ganz sicher eine touristische Renaissance erleben.

Hinter dem Gemünde führt die Havel in den Schwielowsee. „Unter allen Havelbuchten ist der Schwielow die größte und wahrscheinlich auch die neueste. Vielleicht zählt dieses weite Wasserbecken noch keine 1000 Jahre“, mutmaßte Fontane. Mit einem Hochwasser hätte sich die Havel in das tiefer gelegene Moorland ergossen und so den Schwielow gezeugt. Auf einem herrlich glatten schmalen Straße rollen wir zwischen den Schilfgürteln des Sees und den Ausläufern des Wiekikenbergs nach Ferch. Was tun, wenn auch hier einmal endlose Blechlawinen entlangkriechen, die Uferwege zuparken? Sperrung wie auf der Havelchaussee am Wannsee?

F

erch, an der Südspitze des Schwielow, lockt mit einer Vielzahl von Ausflugslokalen, einer ansehnlichen barocken Fachwerkkirche und einigen strohgedeckten Fachwerkhäusern. Ein kombinierter Fuß- und Radweg schlängelt sich durch ein kleines Fenn zum Gartenrestaurant „Haus am See“. Am Dorfausgang weist ein Schild auf die frühere Nutzung eines vergammelnden Areals: „PG der ... Bereich der Nerzfellproduktion“.

Fontane, dieser unermüdliche Tippelbruder und literarische Spürhund, ohne den jede märkische Landpartie fad und historienlos wäre, hatte wieder einmal recht: „Der Schwielow ist gutmütig, aber wie alle gutmütigen Naturen kann er heftig werden, plötzlich, beinahe unmotiviert, und dann ist er unberechenbar.“ So wie heute mittag. Er taucht in der Finsternis fast unter, als der Himmel seine Schleusen öffnet. Und das gerade in radelnder Annäherung an Petzow, diesem so romantischen Dorfensemble auf schmalem Landrücken zwischen Glindower See und Schwielowsee. Der mit rotem Balken markierte „Fontaneweg“ geleitet uns durch zwei Torhäuser in einem Landschaftspark zum Verlieben. Selbst bei diesem Sauwetter noch. Vor uns liegt Schloß Petzow, ein neogotisches Kleinod mit Türmchen, in hellgelbem leicht abblätterndem Gewand. Eine „Europäische Wirtschaftsakademie e.V.“ residiert jetzt unter anderem auf dem ehemaligen Rittergut. Die „Betriebsübernahmegesellschaft Schloß Petzow“ lockt heute mit unschlagbaren Dumping-Bierpreisen: „Rex-Pils 1,85 DM, Schloßbräu 1,95 DM“. Der halbe Liter! Da kann auch ein gut beschirmtes Paar, das vorher im Lennéschen Park einsam seine Runden gezogen hat, nicht widerstehen.

H

inter Petzow passieren wir Reihen von Gewächshäusern des bis vor nicht allzulanger Zeit so berühmten Havelländischen Obstanbaus. Bis die spärlichen Abholzprämien der EG lockten und LPGs aus Not ganze Landstriche von Obstplantagen kahlschlag „sanierten“. Nach all der Beschaulichkeit hat uns an der „Holländer Mühle“, einem Ausflugslokal mit flügellahmer Mühle im Hintergrund, die Auto-Realität an der F1 wieder. Wir überqueren die autogerechte Baumgartenbrücke, die erst seit 1990 die kleinere alte ersetzt. Bei sonnigem Wetter spiegeln sich die gezackten Türme der Heiliggeistkirche von Werder vis-à-vis ansichtskartenmotivreif im Wasser der Havel. Garantiert gefühlsecht!

Unter der mächtigen Brücke, von dieser fast erdrückt und zum Schattendasein degradiert, liegt „Baumgartenbrück“, das backsteinrote ehemalige Brückenwärterhaus. Seit 1826, mit der Unterbrechung von 1956 bis Mai 1991, wird diese Traditionsgaststätte von der Familie Hermann privat geführt. Hier trug es sich auch zu, daß ein Hauptmann namens Ferdinand von Schill anno 1809 den Aufstand gegen Napoleon begann.

Z

um Endspurt radeln wir nun auf einem fast verkehrslosen engen Straße nach Norden, immer den Schwielow im Blickfeld. „Bis zum Einbruch der Dunkelheit“ können wir den Zeltplatz Gaisberg durchkreuzen und die Campingfreunde bei ihren liebsten Freizeitbeschäftigungen en passant beobachten. Die Jugendherberge kurz dahinter, in bester Seelage, fiel wie so viele der Wende zum Opfer. Durch die Bahnunterführung hindurch — und schon haben wir unsere Endstation, den „Hauptbahnhof Potsdam“ erreicht. Ein grauer, Fünfziger-Jahre-Vor- Mauerbau-Bau. Die Politik hat ihn möglich gemacht. Das traurige Etwas mitten im schönen Wildpark mußte her, um Potsdam mit der „Hauptstadt der DDR“ zu verbinden.

Zusatztip: Von Ende Mai bis Oktober setzt die „Weiße Flotte Potsdam“ jeweils samstags und sonntags von Spandau bis Werder und zurück ein Fahrgastschiff ein, auf dem die Fahrradmitnahme möglich ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen