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Ein Stück männliche Literatur

Mahmud Doulatabadi Roman „Der leere Platz von Ssolutsch“  ■ Von Fahimeh Farsaie

Aufgeregt und verstört geht Mergan im Haus rauf und runter, kommt aus der Tür und geht unter das Schutzdach des Backofens, läuft von diesem zu jenem Winkel, geht in den zerfallenen Stall. Er ist nicht da. Er ist nirgendwo im Haus, der Ssolutsch. Unruhig und barfuß stürzt sich Mergan in die leere und eiskalte Gasse. „Das Gesicht dem trockenen Wind zugekehrt“, schlägt sie den Weg zum Haus des Dorfvorstehers ein, ohne dort etwas Bestimmtes zu suchen, kehrt nach einer Weile wieder ungeduldig zurück. Verwirrt und erschüttert sieht sie die ganze Zeit nur ein und dasselbe Bild vor sich: den leeren Platz von Ssolutsch, ihrem Mann, der plötzlich verschwunden ist. Noch mehr als Mergan von dieser bitteren, schlagartigen Wahrnehmung verstört, ist Mahmud Doulatabadi. Deshalb verwandelt er Mergans Charakter in eine „männliche“ Persönlichkeit.

So beginnt das Buch: der im Jahre 1979 auf Farsie geschriebene, 1991 im Unionsverlag auf deutsch erschienene Roman des 52jährigen iranischen Schriftstellers Mahmud Doulatabadi Der leere Platz von Ssolutsch. Es handelt sich um die Geschichte einer armen Dorffamilie im Norden Irans, die das Verschwinden des Ehemanns, des Vaters nicht verkraften kann und deshalb auseinandergerissen wird: Die Ehefrau, Mergan, wird ein „schutzloses Weib“, die 13jährige Tochter Hadjar muß einen viel älteren und verheirateten Mann ehelichen; der ältere Sohn altert in einer einzigen Nacht, nachdem er, beauftragt als Kamelhüter, im Kampf mit einem brünstigen Kamel niedergeschlagen wird und sich in einen Schacht voll giftiger Schlangen stürzt; und der jüngere Sohn sieht sich gezwungen, auf der Suche nach einem Stück Brot den Weg in die Stadt einzuschlagen. Die Geschichte besteht aus einer Folge von katastrophalen Ereignissen, herzzerreißenden Momenten und überraschenden Folgerungen.

Die Welt der Armut, der Not, der Unterdrückung, die großen und kleinen Gewalten sind die Themen des Romans. Doulatabadi löscht in der begrifflichen Darstellung dieser grausamen Welt vollständig den Unterschied zwischen Innen- und Außenbedingungen. Deshalb legt er ebensoviel Wert auf die Darstellung der gesellschaftlichen Bedingungen wie auf das bescheidene und kleine „Glück der Familie“, wenn es um die Analyse von Ssolutschs Fehlen geht. Sein Weggehen wirkt auf die Zurückgebliebenen wie eine Katastrophe, eine seelische wie finanzielle. Die Außenbedingungen werden in der Geschichte zu einem Steinboden, auf dem alle Dorfbewohner laufen müssen, um überhaupt überleben zu können. Zu recht werden die miserablen wirtschaftlichen Bedingungen des Iran der sechziger Jahre als Ursache des Unglücks und Elends des Dorfes Semindj dargestellt. In diesen Jahren herrschten nur schöne und leere Worte: „Die weiße Revolution“, „Die Erde gehört denen, die darauf arbeiten“, „Die Hände des Bauern sind die Besitzurkunde des Bodens“. So lautete die Propaganda der „revolutionären Agrarpolitik“ des Schah-Regimes. Die Zerstörung von achtzig Prozent der Dörfer, Zerstreuung und Abwanderung der Kleinbauern und Lohnarbeiter an die Ränder der Großstädte und die totale landwirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Einfuhrprodukten waren unmittelbare Konsequenzen dieser Politik.

Doulatabadi, als Kenner der Dörfer der nordiranischen Wüstenregion, aus der er stammt und in der er selbst einige Zeit als Schafhirt, Land- und Bauarbeiter sein Brot verdiente, projiziert die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Auseinanderfallen der alten sozialen Ordnung und der Verarmung eines Dorfes so eindrucksvoll und einfühlsam wie die Realität und das Leben selbst. Trotzdem ist und bleibt der Roman ein Stück „männliche“ Literatur. Die Normen der Männerwelt sind Doulatabadis Denkschema. Den leeren Platz von Ssolutsch vertraut der Autor nicht Mergan, Ssolutschs Frau an. Und später macht er aus ihr eine wollüstige Kuh: „Eine Kuh, angefüllt mit Wollust, hat dein Inneres aufgewühlt. Du bist eine Frau.“

Zwei extreme Bilder, Zerrbilder. Nach dem ersten Bild ist Mergan eine schlechte Kopie vom Männermuster. Sie wird nach ihrer Leistungs- und Arbeitsfähigkeit bewertet, darf ihre Gefühle nicht zeigen und handelt rücksichtslos und taktlos. Das zweite Bild fordert ihre Negation sich selbst gegenüber. Sie darf nach dem Willen des Autors nicht ihre Existenz als Frau wahrnehmen. Deshalb macht sie sich schwere Vorwürfe, als sie in einem Stall, den Kamelsattel aufs Gesicht gedrückt, vergewaltigt wird. Sie hätte als „Wächterin ihres Feldes“ — ihres Leibes — auf sich aufpassen müssen! Der Mann ist lediglich seinem Trieb nachgegangen. „Du bist mit Gewalt gepflügt worden... Das reife Feld ist gepflügt worden, und das ist genau das, was in der Natur erforderlich ist“!

Hadjer, die 13jährige Tochter Mergans, taucht ab und zu auf, um den Befehlen ihrer Brüder zu folgen oder von ihnen und Mergan verprügelt zu werden. In der Nacht der Heirat flieht sie aus dem Brautgemach, weil ihr viel älterer Mann sie fesseln und vergewaltigen will. Diese sekundäre Rolle ist gewiß die Widerspiegelung der Stellung Hadjers als ein Dorfmädchen in einer ungerechten, patriarchalischen Gesellschaft, ihrer systematischen, permanenten Ignorierung und Diskriminierung. Mit der Vernachlässigung der Hadjer geht der Autor jedoch soweit, daß er sogar seinen Stil ändert: Er stellt die Charaktere seiner Figuren durch Handlungen, Gespräche und Reaktionen dar. Die „innere Welt“ der anderen Figuren entdeckt der Leser vor allem durch „innere Monologe“, die von Gedanken und Überlegungen des Erzählers begleitet werden. Der Autor enthält Hadjer vor, ihre inneren Zustände zu malen. Die LeserInnen erfahren nichts von ihren inneren Konflikten. Die Figur bleibt blaß und eindimensional am Rande der Geschichte, am Rande der Phantasie- und Denkräume des Autors, am Rande der Gesellschaft.

Die Übersetzung von Doulatabadis Büchern ist nicht leicht — nicht nur, weil die Sprache sich syntaktisch nach der nordostiranischen Mundart mit Impressionen alter persischer Texte richtet, sondern auch, weil die Dialoge und Beschreibungen Ausdrücke andeuten, die ohne gewisse Kenntnisse der kulturellen und historischen Hintergründe kaum zu verstehen sind. Die zahlreiche Verwendung von iranischen Sprichwörtern und Redewendungen machen die Übertragung noch schwerer. Hoffentlich können wir demnächst die anderen Romane Doulatabadi dennoch in besseren Übersetzungen lesen.

Mahmud Doulatabadi: Der leere Platz von Ssolutsch. Aus dem Persischen von Sigrid Lotfi. Unionsverlag, Zürich 1992. 429 Seiten, 39 DM

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