Shamsie Khanoms Sohn

Eine Geschichte aus dem Iran  ■ Von Esmail Fassih

1Keine Fragen. Unterbrecht mich nicht. Setzt euch hin und hört zu. Ihr wollt meine Geschichte wissen? Was ich zu erzählen habe, ist keine Geschichte und kein Märchen. Laßt die Leute denken, was sie wollen. Laßt die Ärzte denken, ich bin verrückt und durchgedreht. Sollen sie doch schreiben, ich habe einen Tumor im Gehirn und daß meine Augen mich zum Narren halten. Sollen sie mich doch hierbehalten. Ich aber schwöre beim Imam Reza, dessen Grabstein ich berührt habe und dessen Namen ich meinem Sohn gab: Was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, das habe ich gesehen. Ich weiß genau, wen ich gesehen habe und was und wo es war.

Wir hatten die Zeremonie des Gedenkens vierzig Tage nach dem Tod meines Sohnes. Zwei Wochen später war es, an einem Donnerstag abend, auf dem Rückweg vom Bad. Da sah ich hinten in unserer Gasse seinen Geist. Vor dem Hejleh* vom armen Nasser, dem Sohn von Robabeh Khanom. Nein, stimmt nicht, er war hinter Nassers Hejleh. Der war nämlich auch ein Märtyrer, müßt ihr wissen. Es war noch nicht ganz dunkel. Vielleicht fünf Uhr oder viertel nach, höchstens. Ich war etwa zehn Schritte entfernt..., vom Hejleh, meine ich; und Hejlehs sind, wie ihr wißt, voll mit Lämpchen und Spiegeln und Glas und Lichtern... Oh ja, ich weiß genau, was ich gesehen habe und wen und wo es war.

2(Shamsie Khanom erzählt weiter. Reza war ihr jüngstes Kind, ihr Augapfel. Nachdem ihr Mann, ein trunksüchtiger Lastwagenfahrer, durch einen Unfall ums Leben gekommen war, lebten sie ärmlich, aber zufrieden. Ihr Ehrgeiz war, daß Reza als Student nach Deutschland gehen sollte und nach seiner Rückkehr nach Teheran zur Mittelklasse des Landes gehören würde.)

3Die ersten paar Jahre in der Oberschule, das waren gute Zeiten für meinen Jungen. Das waren noch die alten Zeiten, müßt ihr wissen, vor der Revolution..., als die Kinder noch ihre Schularbeiten gemacht haben. Auch Reza machte eifrig seine Schularbeiten, jedenfalls wenn er nicht draußen mit seinen Freunden Volleyball spielte. Aber meistens saß er über seinen Büchern. Manchmal ging er zusammen mit Robabeh Khanoms Nasser und Schulfreunden in den Bergen wandern. Im Sommer suchte er sich Arbeit und verdiente ein bißchen Geld. Ach ja, und Deutschstunden nahm er auch, da war er ganz scharf drauf. Pingpong spielte er gerne und machte überhaupt gern Sport. Aber vor allem vergrub er sich in Bücher. Er freute sich so auf die Abschlußprüfungen und daß er dann zur Uni gehen könnte. Als er im letzten Schuljahr war, fing dann alles an, die Revolution und so, und die Schule kam ganz durcheinander, und Reza begann sich hier im Viertel herumzutreiben, in Bazaarcheé. Ich meine, er war gerade dabei, sein Examen zu machen, und dann gab es die ersten Streiks in den Schulen. Damals wurde sein Freund Nasser von diesen schrecklichen Savak-Leuten verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Na, was soll ich sagen, mein Junge regte sich furchtbar auf und wurde ganz hitzig und sagte so Sachen wie: „Weißt du, Mutter, sie haben recht. Es gibt keine Freiheit. Keine Unabhängigkeit.“ Aber wenigstens ging er nicht auf allzu viele Demonstrationen. Weil ich ihm die Hölle heiß machte. Dann wurde er eingezogen, aber er ging nicht. Jedenfalls nicht gleich. Er wollte nicht, daß ich mir Sorgen mache. Und dann kam der Imam zurück, und dann diese ganze Aufregung, hier bei den Kindern im Süden der Stadt..., alles und jeder veränderte sich.

Der Abend, an dem er mit einer Maschinenpistole in der Hand hier aufkreuzte, oh Gott, war das ein Abend! Eine der ersten Nächte der Revolution. Er war doch noch ganz grün hinter den Ohren! „Wir sind jetzt alle Komitee-Wächter“, sagte er zu mir. „Unsere Schule ist jetzt ein Komitee.“ Mein Gott, was habe ich auf ihn eingeredet. Hab' ihm gesagt, daß ich ihm nie verzeihen würde, wenn er dieses Gewehr nicht sofort zurückbringt. Schließlich gab er nach und machte, was ich ihm gesagt hatte. Aber er blieb Mitglied der Islamischen Gesellschaft an seiner Schule, und als der Krieg ausbrach, wurde er, wie fast alle Jungens damals, zur Bassej Mostaz'fan (Gesellschaft der Demütigen) eingezogen. Von der Schule aus fuhr man sie da in der Gegend herum... Man hatte ihnen gesagt, daß diese Aktivitäten als Teil des Militärdienstes anerkannt werden. Und inzwischen wollte Reza so bald wie möglich den Militärdienst machen, damit er es ein für allemal hinter sich hatte.

(Bevor Reza zum Militär geht, wird er mit Zahra, einer Kinderfreundin, verlobt. Direkt nach der Zeremonie geht er als Soldat an die Front.)

4Zweimal hat er von Ahvaz aus zu Hause angerufen, wo seine Brigade stationiert war. Das heißt, er hat im Laden von Abbas Aqa am Ende unserer Gasse angerufen. Und ich bin hingegangen und habe mit ihm am Telefon gesprochen. Einmal hat er auch mit Zahra gesprochen. Oh Gott, was waren das für Tage! Was haben wir uns Sorgen gemacht! Aber mein Junge war optimistisch, und ich habe ihm auch gut zugeredet. Jede Mutter, die ein Kind großgezogen hat, das dann zur Front geschickt wird, weiß, wovon ich spreche. Selbst die kleinsten Sachen können einen nervös machen.

Rezas Stimme war so unsicher, das konnte ich am Telefon hören. Ich sagte ihm, daß er eine wunderbare Braut hat, die hier auf ihn wartet. Daß ich ihm einen wunderschönen Hejleh machen würde, wenn er zurückkommt, und daß ihm die Augen aus dem Kopf fallen würden, wenn er ihn sieht. Das stimmte. Ich hatte das hintere Zimmer renoviert und für ihre Hochzeitsnacht blau angestrichen. Und herrlich rosane Gardinen aufgehängt. Nagelneues Bettzeug besorgt, aus rotem Satin. Eine neue, rosarote Tagesdecke und rosa Kissenüberzüge, mit Stickerei und Fransen und Quasten... Einen Spiegel und einen Kerzenhalter, der aussah wie eine Tulpe, und eine Vase. Ich hatte sogar sein Lieblingsbild der Königin Farrokh—laqa an die Wand gehängt. Und in eine Ecke das Kohlenbecken, das wir bei der Verlobung benutzt hatten, das hatte ich mit wildem Roggen und Kampfer und Räucherzeug gefüllt. Mit einer Kopie ihres Heiratsversprechens bin ich ins Mitgift-Büro in der Somayyeh- Straße gegangen und habe einen maschinengewebten Läufer gekauft, mit Toranji-Muster in Rosa und Blau. Auch Robabeh Khanom hatte Sachen für sie gemacht. Als er das letzte Mal anrief, erzählt ich Reza das alles. Ich sagte zu ihm: „Dein Hejleh ist fertig, für eure Hochzeitsnacht.“

Das waren damals die schlimmsten Tage des Kriegs, mit dem ganzen Bombardieren und Raketen und allem. Ich erzähle euch das, damit ihr versteht, wie die Dinge lagen zwischen uns. Ich meine, zwischen mir und meinem Jungen, bevor sie mir sagten, daß er... oh Gott.

Wenn Worte beschreiben könnten, wie es ist, wenn über einem der Himmel einstürzt, wenn sie ausdrücken könnten, was die Unglückliche fühlt, der das Herz aus der Brust gerissen wird und vor ihren eigenen Augen mit einem Messer zerschnitten — dann könnte ich vielleicht beschreiben, was ich gefühlt habe, als sie mir die Nachricht überbrachten. Und was war das auch für eine Nachricht!

Zuerst sagten sie, daß Reza ins Krankenhaus eingeliefert ist. Komm und kümmer dich um ihn! Als wir anriefen und hören wollten, was passiert ist, sagten sie, komm her, du mußt die Leiche identifizieren. Herr... Daß Allah euch vor solchem Elend schütze. Robabeh Khanoms Bruder Aqa Gholam fuhr mich und sie zum Krankenhaus, in seinem Lieferwagen. Da schubsten sie uns von einem Büro zum nächsten, von einem Flur zum anderen. Mein Herz klopfte wie verrückt. Ihre Berichte und Akten und die Nummern der Leichen waren total durcheinander gekommen. Und der Leichnam, den sie uns zeigten, das war ja gar kein Körper mehr. Das war ein junger Bursche, dessen obere Hälfte völlig verkohlt war und die untere über und über voll Blut. Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Ich wurde ohnmächtig...

5(Fast zwei Monate liegt Shamsie Khanom im Krankenhaus und versäumt dadurch die Beerdigung ihres Sohnes und die nachfolgenden Zeremonien. Erst als der Nachbarjunge Nasser, der ebenfalls „als Märtyrer heimgekommen“ ist, beerdigt wird, begreift sie, was geschehen ist, und weint tagelang. In diesen Tagen erscheint Reza ihr das erste Mal. „In seinen Augen stand Furcht, oder hatte er nur die Stirn gekraust, sah er mich vielleicht sogar mit Wut an?“ Er verschwindet, und auf der Suche nach ihm geht sie auch zu Zahra, Rezas „Witwe“.)

Ich stand vor Zahras Schule und sah mich schnell um. Ich dachte, daß er vielleicht hier irgendwo war. Aber es war keine Menschenseele zu sehen, außer dem alten Hausmeister, der auf der Türschwelle döste. Ich unterhielt mich ein bißchen mit ihm und ging dann hinein. Zahra war in der Bibliothek. Das arme Mädchen, sie hat sich so erschrocken. Sie wurde ganz weiß, und ihre Lippen zitterten. Nein, sagte sie, sie hatte Reza heute nicht gesehen. Ich erzählte ihr alles genau, wie ich ihn gesehen hatte. Wie ich vom Bad zurückkam und wie er am Hejleh gestanden hatte..., was er anhatte, wie er mich angeguckt hat und alles.

„Shamsie Khanom! Hör auf, dich so zu quälen“, rief Zahra. „Das ist schlecht für dein Herz!“

Aber sie willigte ein, mit mir zurückzugehen. Wir suchten das Viertel nach ihm ab. Mein armer, unglücklicher Junge! Selbst nach seinem Tod mußte seine Seele wandern. Wir gingen auf der Suche nach ihm bis zum Shahpour-Platz auf der einen und bis zum Stadtpark auf der anderen Seite. Aber Reza war verschwunden. Zahra versuchte, mich zu beruhigen. Aber ich konnte sehen, daß sie mir glaubte. (Selbst später noch war sie die einzige, die mir glaubte.) Sie erzählte mir, daß auch sie von Reza träumte. Jede Nacht. Aber sie wüßte auch, daß Reza zum Märtyrer geworden war, daß er tot war und begraben. „Shamsie Khanom“, sagte sie zu mir, „vielleicht hast du seinen Tod noch nicht angenommen, weil du im Krankenhaus warst, als Reza beerdigt wurde und bei den anderen Gedenkzeremonien. Wir haben ihn beerdigt, und zwar so, wie es Brauch ist für einen Märtyrer. Wir haben ein Hejleh für ihn aufgestellt, genau da, wo jetzt Nassers Hejleh ist. Eine Woche lang hat er da gestanden. Reza ist tot.“ Das arme Mädchen fing an zu weinen. Und da wußte ich, daß sie mir glaubte. Ihr Herz glaubte mir.

6(Ihr Sohn Reza erscheint ihr von nun an immer wieder; mal steht er vor einem Kinoplakat, auf dem steht „Mutter, du hast mich belogen“, mal inmitten einer Menschenmenge auf dem Fernsehbildschirm. Immer sieht er wütend direkt seine Mutter an. Shamsie geht auf den Friedhof, wirft sich über sein Grab und schlägt auf den Stein ein bis zur Ohnmacht. Zahra besorgt ein Auto und läßt sie heimfahren.)

7Es regnete heftig, und die Jungen vom Komitee brachten uns mit ihrem Toyota nach Hause ins Bazaarcheé. Sie fuhren sogar noch in die kleine Gasse hinein, aber weiter konnten sie schließlich mit ihrem Auto nicht mehr. Wir gingen den Rest zu Fuß. Im Bazaarcheé war es dunkel; es war ein Freitag abend, und die Straßen waren leer und verlassen. Wir waren schon fast am Haus, als wir jemanden am anderen Ende der Gasse gehen sahen, Richtung Ghandi-Moschee. Es sah so aus, als wenn er nicht alleine wäre.

Ich schrie los: „Reza!“ Er blieb stehen und sah uns an. Als ich ihn noch einmal rief, drehte er sich um und rannte weg. Es sah so aus, als ob er eigentlich auf uns gewartet hätte, aber als ich ihn erkannt und angerufen hatte, flüchtete er.

Zahra zitterte wie Espenlaub. Ich auch. Reza oder sein Geist oder wer es war, rannte im Regen davon. Zahra rief ihn auch, aber sie lief ihm nicht nach. Sie hätte es wohl gemacht, wollte mich aber nicht alleine da stehen lassen. Immerhin, jetzt hatte auch sie ihn endlich gesehen. Sie rang nach Luft.

Irgend jemand oder irgend etwas, das aussah wie Reza — oder vielleicht Reza selbst oder sein Doppelgänger — ging durch die Straßen oder wollte etwas. Oder wollte uns etwas sagen.

Von da an sah ich ihm immer öfter. Manchmal im Fernsehen, mitten unter jungen Leuten, die eine Demonstration machten. Nur schien er immer etwas anderes zu rufen als sie. Oder ich sah ihn an einer Mauer stehen, unter dem berühmten Spruch: „Weine nicht um mich, Mutter.“ Nur hatte er das „nicht“ durchgestrichen. Oder er hinterließ alle möglichen Botschaften für mich, überall. Zum Beispiel hatte er ein rotes Fragezeichen unter den Anschlag an der Moschee gemalt, auf dem die Märtyrer mit Zeit und Ort ihres Todes verzeichnet waren. Einige Tage später sah ich, daß der Hausmeister der Moschee das Fragezeichen durchgestrichen hatte. Ich malte es mit einem roten Kugelschreiber wieder hin, aber sie haben mich dabei erwischt und mir eine große Standpauke gehalten. Seitdem durfte ich nicht mehr in die Moschee gehen. Sie sagten, ich sei verrückt.

Danach bemerkte ich, daß er auch auf die Wände in den Gassen des Basars schrieb, manchmal nur Zusätze zu den Sprüchen, die da schon standen, mit Kohle oder Kreide. Zum Beispiel hatte er zu dem Spruch „Die Märtyrer leben“ hinzugesetzt: „und sind wütend“. Ich hätte so gern gewußt, was er mir sagen wollte. Was lag ihm auf der Seele? Warum mußte er durch die Straßen wandern? Ich war überzeugt davon, daß er auch ins Haus kam, allerdings nur, wenn ich nicht da war. Ich merkte, daß er irgendwelche Schulsachen mitgenommen hatte. So als ob er irgendwo zur Schule ginge oder weiterlernen wollte für die Aufnahmeprüfung an der Universität.

Inzwischen träumte ich jede Nacht von ihm. Ich mußte nur meine Augen zumachen, und schon tauchte er auf. Eines Nachts, Zahra schlief bei mir diese Nacht, träumte ich, daß er wieder vor dem Mihan-Kino stand. Ich stand neben ihm. Er ging auf mich zu. Das Kino war geschlossen. Es war Feiertag, Todestag von einem Imam. Auch die Läden waren alle zu. Nicht weit vom Kino entfernt stand da ein Hejleh, am Bürgersteig. Dort stand Reza. Ich wollte, daß er mir etwas sagt, aber er blieb stumm. Nur sah er mich direkt an, mir direkt in die Augen. Es sah aus, als ob er mich etwas fragte, flüsternd. Als ob er fragte: „Ist dies der Hejleh, den du gemeint hast?“ Aber er sprach nicht. Als ob er böse mit mir wäre, eingeschnappt, trotzig.

Ich wachte auf mit einem Schrei. „Nein!“ schrie ich in die Dunkelheit. „Ich meinte deinen Hochzeitshejleh. Ich schwöre beim Koran. Den Hejleh für deine Hochzeit hab' ich dir versprochen!“ Die arme Zahra, sie wachte erschrocken auf und versuchte, mich zu trösten.

(Shamsie Khanom wird in die Klinik eingeliefert und für eine Kopfoperation vorgemerkt. Ab jetzt verbringt sie die meiste Zeit auf dem Friedhof und wandert zwischen den Gräbern der Märtyrer umher. Dort erscheint ihr Reza nahezu täglich.)

8(Immer öfter begegnet er ihr inmitten anderer junger Männer, die alle in Leichentücher gehüllt sind. Sie tragen Turnschuhe und halten Bücher in den Händen; sie rufen unhörbare Slogans, als hielten sie eine Demonstration ab.)

Ich konnte immer noch nicht verstehen, was er mir zu sagen versuchte. Ich verstand nicht, was ihn so wütend machte. Ich kann mich bloß leider nicht erinnern, ob ich das jetzt geträumt oder wirklich gesehen habe. Alles, was ich weiß, ist, daß es sehr früh morgens war. Ich war nach Behesht Zara gegangen. Der Friedhof war leer, alles ruhig und still. Keine Menschenseele zu sehen. Da hörte ich einen merkwürdigen Lärm. Der schien vom Haus herzukommen, wo die Leichen der Männer gewaschen werden. Ich hatte Angst, aber mir war klar, daß da irgend etwas los war. Langsam ging ich näher. Ich zitterte vor Kälte. Je näher ich kam, desto lauter wurde der Lärm, der da vom Waschhaus kam. Es hörte sich an, als wenn Leute darin wären, die Slogans rufen oder singen. Mein Herz klopfte wie wild, ich dachte, es zerspringt mir. Ich wußte doch, daß keiner über Nacht auf dem Friedhof bleibt. Ich ging näher, immer näher. Es hörte sich so an, als ob sie da drinnen über einen Streik sprachen, über die Verhältnisse in den Gräbern. Zuerst dachte ich, daß das vielleicht die Männer sind, die die Leichen waschen. Aber die Türen waren alle fest verschlossen und kein Mensch zu sehen. Es waren die Toten, die da drinnen redeten. Einer sprach jetzt sehr laut über eine Petition oder ein Manifest oder Gott- weiß-was. „Oh Gott“, sagte er, „es ist fast schon Morgen. Wir müssen aufhören und in die Gräber zurück.“ Da rief ein anderer: „Wir gehen nicht zurück!“ Und noch ein anderer schrie: „Recht hat er, es muß endlich was passieren!“ Viele stimmten ihm lauthals zu. Dann sagte einer: „Wir gehen so lange nicht in unsere Gräber zurück, bis die Dinge zurechtgerückt sind. Sie haben kein Recht, uns so zu behandeln. Sie hätten uns nicht belügen dürfen.“

Mein Herz hörte beinahe auf zu schlagen. Das war seine Stimme! Ich ging näher und sah durchs Schlüsselloch. Da stand er. In der großen Halle, genau vor der Eingangstür. Um ihn herum viele junge Männer, alle in seinem Alter, die gingen hin und her und ballten ihre Fäuste.

Sie hielten an diesem Morgen eine Versammlung ab. In Leichentücher gewickelt und voll mit Schmutz und Staub. Und Turnschuhe hatten sie an... Ich hatte ihn noch nie aus solcher Nähe gesehen, diese ganze Zeit nicht. Ich vergaß alles andere und hämmerte mit meinen Fäusten an die Tür. Ich rief nach ihm: „Reza! Reza!“ Ich wollte, daß er mich sieht, daß er die Tür aufmacht. Ich wollte zu ihm gehen und ihm sagen, schwören auf den Koran, daß ich den Hochzeitshejleh gemeint hatte. Ich wollte ihm sagen, daß ich ihn nicht im Stich gelassen hatte. Ich schwor beim Koran.

Plötzlich wurde es still, keine Stimmen mehr, nur noch dieses unterdrückte Stöhnen, wie eine Art von furchtbarem Summen. Dann wurde es schwarz um mich.

(Zwei Friedhofswächter finden Shamsie Khanom; sie versucht immer noch, ins Waschhaus zu gelangen und sie davon zu überzeugen, daß die Toten dort eine Streikversammlung abhalten.)

Inzwischen herrschte im Waschhaus absolute Stille. Aber ich wußte, daß sie da drinnen waren. Ich fing wieder an, die Tür mit meinen Fäusten zu bearbeiten. Und ich schrie. „Ich liebe dich. Ich meinte den anderen Hejleh. Ich schwöre zu Gott!“

Da haben sie mich genommen und hierher gebracht. Als sie mich ins Auto steckten, muß ich mir wohl den Kopf gestoßen haben. Seitdem erinnere ich mich an kaum noch etwas.

*Hejleh: ein thronartiges Gebilde, etwa anderthalb Meter hoch, dekoriert mit Glas, Spiegeln und bunten Lämpchen; wird aufgestellt zum Gedenken an nahestehende Verstorbene. Gleichzeitig ist Hejleh aber auch eine Bezeichnung für den Raum, in dem ein Hochzeitspaar seine erste Nacht verbringt.

Esmail Fassih ist in Teheran geboren und lebt dort bis heute. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat er sich als Romanschriftsteller einen Namen gemacht. 1985 erschien sein Roman Soraya in a Coma auf englisch. Die vorliegende Erzählung ist enthalten in dem 1990 publizierten Sammelband Bilder vom gestörten Feld, der in Teheran nicht ausgeliefert werden durfte.