Insel der lebenden Toten

■ Zur "grünen Hölle" wurde für viele Leprakranke die Hawai-Insel Kalaupapa

Zur „grünen Hölle“ wurde für viele Leprakranke die Hawaii-Insel Kalaupapa

VONANNETTEKALTENBACH

Die Halbinsel Kalaupapa auf Molokai ist kein Ort für Menschen mit schwachen Nerven. Ein schmaler, wilder Pfad schlängelt sich aus fast 1.000 Metern Höhe zur Küste hinab, immer am Abgrund entlang. Kein Geländer, kein Seil vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Schlammige, rote Erde, dunkles Vulkangestein und, jenseits des Weges, wild wucherndes, üppiges Grün begleiten den Wanderer, ein Wald voller Papayas und Mangos. In der dämpfigen Luft liegt ein süßlicher Duft.

Wer Kalaupapa sehen will, muß auf sich selbst oder den Maultieren vertrauen. Die flache Nordküste der 59 Kilometer langen, aber nur 16 Kilometer breiten Insel Molokai, der fünftgrößten des hawaiianischen Archipels im Pazifik, ist vom Rest der Insel durch ein senkrecht in den Himmel ragendes Felskliff getrennt.

„Heute ist Molokai ein Paradies, früher war es die Insel der lebenden Toten“, erzählt Jimmy Brede. Der stämmige Hawaiianer, der sein narbiges Gesicht hinter einer dunklen Sonnenbrille verbirgt, ist einer von 69 Menschen, die in der kleinen Siedlung „Hale Mohalu“ leben. Für mehr als 8.000 Hawaiianer wurde Kalaupapa seit 1866 unfreiwillig zur zweiten Heimat: Als Leprakranke wurden sie von Honolulu auf der Insel Oahu nach Molokai geschafft. „Viele waren noch Kinder, als sie ihren Familien und Freunden entrissen wurden“, erzählt Jimmy. Als 15jähriger Aussätziger wurde er selbst 1942 in die „grüne Hölle“ geschickt. „Gut hundert Meter vor der Küste haben sie uns damals über Bord geworfen. Manche haben nicht einmal den Weg bis zum Strand geschafft“, erinnnert er sich.

Die ersten Leprafälle auf Hawaii tauchten in den 30er Jahren des 19.Jahrhunderts auf. Chinesische Gastarbeiter sollen die älteste Geißel der Menschheit auf den Archipel eingeschleppt haben. „Mai Pake“ — die chinesische Krankheit — nennen die Ureinwohner sie deshalb heute noch. Zahlreiche Hawaiianer wurden nach Jimmys Meinung jedoch völlig grundlos nach Molokai verbannt. „Die leichteste Veränderung der Hautfarbe, eine geringe Schwellung der Glieder genügte, und man landete auf Kalaupapa“, berichtet er. Die Angst vor Ansteckung war größer als jedes menschliche Gefühl.

1865 ließ König KamehamehaV. für leichte Fälle das Kahili-Krankenhaus auf Honolulu einrichten. Für die Kranken im fortgeschrittenen Stadium des Aussatzes war der Küstenstreifen auf Molokai reserviert und wurde zum Schauplatz menschlicher Tragödien. „Die Ärzte hantierten mit drei Meter langen Stöcken und stellten die Medikamente vor dem Gartentor ab.“ Lepra war keine Krankheit mehr, sondern galt als Verbrechen. Die Oberschicht Hawaiis — Japaner, Chinesen und Philippiner — hatte die Infektionskrankheit kurzerhand zum „vierten Stadium der Syphillis“ erklärt.

Die Zeiten auf Kalaupapa haben sich geändert. Die Lepra hat ihre Schrecken verloren. Die Behandlung mit neuen Präparaten brachte in den 40er Jahren die Wende für Jimmy und den Rest der Leprakolonie, obwohl nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heute noch mindestens sechs Millionen Menschen in aller Welt am Aussatz leiden.

Als die amerikanische Regierung 1969 die rigorose Isolierung der Kranken auf Hawaii aufhob, geschah das Unerwartete: Der Ort der Verbannung war für viele Leprapatienten zu einer neuen Heimat geworden, und sie blieben freiwillig auf Kalaupapa. „Wir haben hier alles, was wir zum Leben brauchen“, erklärt Jimmy mit Genugtuung. „Unsere Holzhäuser, eine kleine Poststation und eine Tankstelle, die einmal in der Woche aufmacht, denn wir haben nicht mehr als sieben Kilometer Straßen.“ Dreimal die Woche bringt ein Flugzeug frische Lebensmittel aus dem rund 20 Flugminuten entfernten Honolulu.

Eine große Zukunft steht der 1980 zum Nationalpark ernannten Halbinsel Kalaupapa nicht bevor. Das Durchschnittsalter der 69 Einwohner liegt bei 70 Jahren, eine neue Generation wächst nicht nach. „Wenn wir einmal nicht mehr sind, wird Kalaupapa schnell Historie werden“, meint Jimmy. „Ich habe alle anderen Hawaii-Inseln gesehen, aber ich liebe Molokai.“