Augustdorf ist die Hochburg der Pietisten

In der westfälischen Kleinstadt leben seit 1987 zweitausend Rußlanddeutsche/ Sie sind entweder Baptisten oder Mennoniten, und fast alle miteinander verwandt/ Massentaufen finden schon mal im Gemeindeschwimmbad statt  ■ Aus Augustdorf Anita Kugler

Es steht in der Bibel, und Steffen Friesen hat sich sein ganzes siebenundsiebzig Jahre langes Leben daran gehalten: Arbeiten sollst Du, im Schweiße Deines Angesichts und am siebten Tag den Herrn loben. Jetzt kann er nur noch loben, und das bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Zu Hause in Kasachstan sei er kein Tagedieb, sondern nützlich gewesen. Er hätte seinen Garten gepflegt, Kartoffeln geharkt und Gurken gezogen, die Anna, seine Frau, eingeweckt hätte. Und außerdem wären da noch seine 33 Enkel gewesen, auf die ein Auge zu werfen sich lohnte, damit sie nicht „ausputzen“, das heißt, die guten deutschen Traditionen und den christlich-mennonitischen Glauben von Martin Luther und Meno Simons vergessen.

Aber Kasachstan ist viele tausend Kilometer weit weg und seit zwei Jahren auch nicht mehr Heimat. Die neue heißt Augustdorf und liegt im Dreieck zwischen Detmold, Paderborn und Bielefeld. Der Garten existiert nur noch in den Träumen, die Wirklichkeit ist ein Fleck steriler Rasen zwischen den Häusern des Übergangswohnheimes.

Deutschland ist nur gut für die Alten

Von den 249 Rußlanddeutschen, die in den Musterhäusern der Emilienstraße leben, sind zwei Drittel unter 20 Jahre alt. Um „als Deutsche unter Deutschen“ eine Zukunft zu finden, verläßt diese Generation die ehemalige Sowjetunion. Der alte Mann sorgt sich: Zuviel Assimilation mit den „Deutschländern“ untergrabe die Arbeitsmoral und verderbe die Sitten. „Wenn ich den Bundeskanzler mal treffen sollte“, sagt Steffen Friesen im menneschen Dialekt, „dann würd ich meine Händ nich in der Tasche lassen.“ Er würde mal „deitsch“ mit ihm reden: „Deutschland ist gut für die Alten, aber schlecht für die Jungen.“ Was den Patriarchen so fuchsig macht, ist das deutsche Sozialsystem. „Wer Arbeit sucht, findet auch welche“, glaubt er. Aber warum sollten die Jungen suchen, wenn die Obrigkeit auch das Ausruhen bezahle. Das bringt sie ab „vom christlichen Weg“, sagt er, „dann fangen sie an, den Tag zu vertrödeln und mit Mädels herumzumachen.“ Und da sei Gott vor.

Steffen Friesen ist ein im mennonitischen Glauben und Prinzipien gefestiger Mann. Vor über 200 Jahren folgten seine Vorfahren einem Aufruf von Katharina der Großen. Als „Kulacken“ ließ Stalin sie in den 30er Jahren enteignen. 1941 wurden sie nach Sibirien deportiert und in den sechziger Jahren im Altai-Gebiet und in Kasachstan angesiedelt. Wie keine andere Gruppe widersetzten sie sich der Russifizierung, behielten trotz Repressionen ihre Religion und ihre engen familiären Bindungen bei. Über Generationen hinweg und noch bis heute praktizieren die Mennoniten eine Lebensform, die typisch für das ist, was Max Weber mit „protestantische Arbeitsethik“ beschrieben hat.

Nach Augustdorf sind er und seine Frau gekommen, weil in Kasachstan alle Christen gehen, deren Kirchen nicht amtlich registriert sind. Also die Pietisten, die Mennoniten, Baptisten und Pfingstler. „Ich kenn keinen, der bleiben will“, sagt der alte Mann. In der Friesen-Familie fing der Exodus vor fünf Jahren mit der Ausreise seines jüngsten Sohnes Gerhard an. Den verschlug es mit anderen Glaubensbrüdern nach Augustdorf. Die Briefe aus dem gelobten Land wirkten für die Zurückgebliebenen wie ein Sog. Weil es bis Sommer 1990 noch kein gelenktes Aufnahmeverfahren mit Quoten und Zuzugsbeschränkung gab, zogen bis zu diesem Zeitpunkt die Aussiedler dorthin, wo Verwandtschaft, Freunde oder Glaubensbrüder schon waren. 1988 reiste der nächste Sohn nach Augustdorf und 1989 fast die ganze Familie, insgesamt 32 Personen. 1990, kurz bevor der Landkreis einen absoluten Zuzugsstopp verhängte, folgten Steffen und Anna.

Die Stadt hatte Mühe, die vielen Friesens, Peters, Pankratzs, Dirksens und Derksens, die da alle via Friedland aus Kasachstan und dem sibirischen Altai-Gebiet kamen, unterzubringen. Aber sie schaffte es, und dies trotz des Unmuts vieler Augustdorfer. „Die Rußlanddeutschen kommen nicht nach Deutschland“, sagen die Einheimischen, „sondern in den Landkreis Westfalen-Lippe.“ Sie fühlten sich überfremdet, erinnert sich der Sozialstadtrat Herr Wobke, sahen sich bei der Verteilung von Bauland und Wohnungen benachteiligt, neideten den Aussiedlern die günstigen Startkredite und fürchteten den Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze sowie eine Stärkung der Konservativen bei den nächsten Wahlen. „Aber lieber die Russen“, bringt eine alteingesessene Westfälin die Ressentiments auf den Punkt, „als die Türken.“

Genußsucht und Video sind des Teufels

Von den 8.900 Einwohnern sind etwa 2.000 in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Nirgendwo in Nordrhein-Westfalen leben so viele Rußlanddeutsche an einem Ort. Und was diese Aussiedlergemeinde von allen anderen in Deutschland unterscheidet: Fast alle sind miteinander verwandt und tief religiös. 25Prozent der Neubürger sind Mennoniten. Die große Mehrheit aber, nämlich 70Prozent, sind Baptisten. Von denen gibt es in Augustdorf gleich zwei Richtungen. Die Christlich Baptistische Gemeinde und die ultrastrenge Baptistische Brudergemeinde. „Gott will, daß wir zu ihm kommen“, sagt der Vorprediger der Gemeinde, Andreas Friesen, „aber das Nadelöhr ist eng.“ Noch rigider als alle anderen Wiedertäufer halten sie sich daher an die biblische Forderung, das Leben Christi auf Erden zu führen. Alle Lustbarkeiten, die nicht durch die Schrift sanktioniert sind, sind des Teufels. Nikotin, Alkohol, Kneipen, Tanzvergnügen sind verpönt, Kino, TV und Video sind der Anfang vom Ende. In Augustdorf, sagt der Sozialstadtrat, gibt es nicht einen Rußlanddeutschen, der einen Fernseher zu Hause stehen hat. Das einzige Zugeständnis an das Auge sind die großen rosa Schleifen in den Haaren der kleinen Mädchen und die gepunkteten Kopftücher der Frauen.

Die Baptistische Brudergemeinde hat derzeit Großes vor. Im Herbst soll der Rohbau der neuen Kirche fertig sein. Spätestens im Frühjahr 1993 sollen jeden Tag Gottesdienste stattfinden. Zwei Millionen Mark hat allein das Baumaterial gekostet, und den Betrag aufgebracht haben die Gläubigen selbst. Jeder Baptist muß ein Drittel seines Monatsgehalts spenden und jeden dritten Monat sogar sein volles Gehalt. Gebaut wird die Kirche von den Gemeindemitgliedern. An den Wochenenden hämmern, meißeln und zementieren bis zu 100 Männer am neuen Gotteshaus. Die Frauen kochen in den bereits fertiggestellten Gemeinderäumen riesige Portionen Borschtsch und Piroggen. Die Brudergemeinde versucht offensiv die mennonitische Minderheit, deren relgiöses Charakteristikum die caritative Arbeit und das Laienpredigertum sind, zum rechten Gemeindeleben zu missionieren. Mit Erfolg — im vergangenen Sommer fanden zwei Massentaufen im Augustdorfer Schwimmbad statt. Auch bei Steffen Friesen hat die Brudergemeinde angeklopft. Allerdings vergeblich. „Ich habe doch nicht meine mennonitische Liedersammlung aus Kasachstan mitgebracht, um sie hier gegen in Amerika gedruckte Bibeln auszutauschen“, empört er sich.

Über allen Kirchenkampf hinweg aber sind sich die Baptisten und Mennoniten in einem einig: Die Familienbindungen müssen erhalten bleiben. In der Sowjetunion separierten sich die Strenggläubigen, um ihre nationale Identität nicht zu verlieren. Hier schotten sie sich von den „Deutschländern“ ab, um ihre kulturelle Identität zu bewahren. Auf lange Sicht jedoch, befürchten auf Aussiedlerprobleme spezialisierte Psychologen, könne die Spannung zwischen Tradition und Moderne in die Familien hineingetragen werden und die auftretenden Konflikte bei den Jugendlichen zu psychosomatischen Störungen führen. Weil aber die Rußlanddeutschen in Augustdorf wie in Ghettos zusammenleben, ihre Kinder in den Kindergärten und Schulen fast unter sich sind und in den Familien vorwiegend russisch gesprochen wird, könnte dieser Akkulturationsprozeß bei den Pietisten länger dauern, als in anderen bundesdeutschen Gemeinden mit evangelischen Aussiedlern. Steffen Friesen hofft, daß seine Familie wenigstens noch eine Generation lang zusammenbleibt, Mischehen wären ihm daher gar nicht recht. Der Sozialstadtrat Wobke hingegen befürchtet, da noch nicht einmal von „gemischten“ Freundschaften in Augustdorf die Rede sein kann, daß es mindestens noch zwei Generationen braucht, „bis die so sind wie wir“.