Von geduldigem Papier

■ »Paper Poems« von Ingrid Pitzer in der Galerie Sophienstraße in Lichtenberg

Ein Gedicht ohne den dazugehörigen Bogen Papier hat eine kaum höhere Lebenserwartung als eine Schneeflocke im Lenz. Was die Sonnenstrahlen der kristallinen Molekülstruktur, ist das Kurzzeitgedächtnis den schönen Reimen: übrig bleiben Stimmungen, Gefühle und Wasserflecken, die sich nicht mehr zurückverwandeln lassen.

Papier vermag die Poesie aus ihrer flüchtigen Existenz zu locken, ihr gewissermaßen den stofflichen Körper und damit Bestand einzuverleiben. Paper Poems nennt Ingrid Pitzer ihre Ausstellung treffend, denn was da in der kleinen Galerie zumeist einige Zentimeter über dem Erdboden schwebt, ist bildgewordene Poesie — aus Papier. Von einem biegsamen Drahtkern mal abgesehen, sind die flexiblen Bögen der einzige Rohstoff, mit dem die Künstlerin ihren Geheimnissen eine plastische Form gibt. Experimentierfreudig in Sachen Papier baut sie über zwei Meter hohe Gerüste aus dem Material ihrer Wahl und läßt daran Schiffschaukeln wippen oder die graumelierte Weste eines Dirigenten ohne Kopf und Hose flattern.

Fremdländisch, wie Botschaften von einer fernen Welt, hängen die eigenwilligen Objekte von der Decke und spiegeln damit nicht zuletzt die langjährige Auslandserfahrung ihrer Schöpferin. Eiswald nennt sich ein Gewirr weißer Luftwurzeln, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und sich ins Bodenlose verlieren. In der oberen Hälfte durchbrechen weiße Bögen handgeschöpften Papiers den Fluß der vertikalen Linien, der eingefrorene Wald erscheint doppelt gebremst. Eine Endzeitvision einer ausgedörrten, leblosen Welt, statt der Blätter hängt die geschundene Erdscholle, leergesaugt vom Vampir Zivilisation, in den mageren Ästen. Und dennoch hat das Werk etwas Leichtes, wie eine Sage aus einem verschneiten Märchenwald. Diese Flexibilität beim Umgang mit Logik ist allen Werken gemeinsam und verweist auf den intuitiven Ursprung — das Unbewußte kennt keine logischen Konzepte.

Auch das Wintertagebuch ist vollständig in Weiß gehalten. Drei knotige Kordeln fädeln sich von der Ladendecke zum Boden hinab und wickeln sich da unten wie Schiffstaue zu großen Rollen. Eintönig und farblos scheinen die Pitzerschen Wintertage dahinzuplätschern — das Weiß verleiht ihnen seltsame Neutralität und Austauschbarkeit. In kaum wahrnehmbaren Nuancierungen folgt Knoten auf Knoten und liegt dann schwer auf der Erde — individuell erlebte Realität, die aus himmlischen Gefilden zu kommen scheint, sich dann aber, zu Vergangenheit geronnen, zentnerschwer auf dem Boden staut. Stutzen macht die Tatsache, daß es drei Fäden sind, die sich da von der Decke winden. Das dreigeteilte Selbst als Körper, Seele und Geist, und jedes spinnt seine völlig eigenständige und doch weitgehend identische Geschichte. Ein Tagebuch endet im Idealfall erst mit dem Ableben seines Autors — dem Wintertagebuch mit dem Untertitel work in progress stehen also noch diverse Kapitel ins Haus. Geplante Folgeausstellungen werden das Werk im neuen Umfang zeigen. Bliebe nur noch zu erwähnen, daß in diesen Werken ausschließlich ideologisch einwandfreies Papier Verwendung fand — aus den Altpapierbeständen unserer allseits geliebten Tageszeitung. Antje Braunschweig