Jesus aus dem Sherwood Forest

■ Eine letzte Reinkarnation des Erfolgsmusicals »Jesus Christ Superstar« rockte sich im ICC in die Herzen der letzten Jesus-Fans

Der Stoff für eine gute Geschichte ist es allemal. Und wäre es nicht lange zuvor gewesen, man hätte behauptet, die Apostel, die das Leben ihres Meisters niedergeschrieben haben, hätten mit einem Auge gen Hollywood geschielt. Ihr Buch über Jesus von Nazareth wurde ein Bestseller, und solche werden heutzutage üblicherweise verfilmt und auf die Bühne gebracht. Es ist eben eine Geschichte ganz nach dem Geschmack der gefühlsduseligen Fangemeinde: wo sonst hat man so viele Engel im Zwielicht, klagende Jungfrauen, weinende Weichlinge und einen original leidenden Märtyrer, der besser ist als die Welt erlaubt und deshalb dringend zu seiner Verwandtschaft ins Jenseits evakuiert werden muß.

Noch Jahrhunderte nach dem Tod des Hauptdarstellers galt diese gänsehauterzeugende Art seiner Darstellung als unantastbares Sakrileg. Bis sich Ende der siebziger Jahre Tim Rice (Text) und Musical-Maniac Andrew Lloyd Webber (Cats, Phantom der Oper, Evita) der Geschichte in fast schon blasphemischer Weise annahmen. Inspiriert von der Ähnlichkeit zwischen den Hippies und der Jesus-Bande komponierten sie eine Rock-Oper über die letzten sieben Tage im Leben des Judenkönigs, betrachtet mit den Augen seines Widersachers Judas: Jesus Christ Superstar. Im Oktober 1971 hatte das Musical Premiere auf dem New Yorker Broadway. 1972 startete es in London, wo es bis zum 23. August 1980 3.357 mal aufgeführt wurde — eine Laufzeit, die kein anderes Musical in der britischen Theatergeschichte je erreicht hat.

Zwölf Jahre später hält sich die Anziehungskraft des Stückes zumindest in der heidnischen Neo-Metropole Berlin in Grenzen. Nach einer kurzer Laufzeit im Ostberliner Metropol- Theater Anfang 1992 kehrte das Original-Broadway-Ensemble — zugunsten der gesanglichen Qualität in Teilen neubesetzt — vergangenen Donnerstag und Freitag für zwei Tage auf die Hauptstadt-Bühne zurück.

Im techno-gestylten ICC will die rechte Hippie-Stimmung nicht aufkommen. Bei Kartenpreisen von stolzen 80 Mark ist der Großteil der Besucher ohnehin unrettbar jenseits der Langhaargrenze. Abendroben dominieren, und der einzige Jesus-Freak mit Vollbart, Birkenstock und blauer Mönchskutte sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, vom Veranstalter bestellt worden zu sein. Doch dafür, daß im bestenfalls zu einem Viertel gefüllten Saal überhaupt Kommunikation aufkam, hatte man gesorgt: Die Platzkartenbindung wurde kurzerhand aufgehoben. So lernt man sich tatsächlich kennen — und zwar keifend, schubsend und sich an der Robe zerrend, den eingangs verteilten Handzettel »Jesus liebt dich« fest in der geballten Faust.

Im Zuschauerraum herrscht immer noch ein Betrieb wie auf dem Hauptbahnhof, als Judas endlich unüberhörbar einschreitet. Zu den Klängen einer Elektrogitarre schildert er uns lautstark seine Zweifel am Verhalten des Revoluzzerchefs Jesus (Brad Little). Zu wenig subversiv sei er angesichts der Bedrohung durch die römischen Besatzer, schließlich wolle er, Judas, am Leben bleiben. Und überhaupt wäre es am besten gewesen, wenn Jesus Schreiner geblieben wäre und niemand ihn je kennengelernt hätte.

Kein Zweifel also, Judas neidet Jesus den Anführerposten. Schon hat der Kampfhahn den beigen Meistermantel locker über die schwarze Jeanskluft geworfen, doch er kommt nicht an gegen das schneeweiße, bodenlange Charisma seines Vorbilds und Widersachers. Ein Rätsel, denn gegen die eindrucksvolle, gestenstarke und stimmgewaltige Gestalt des langmähnigen Judas (Danny Zolli) wirkt der Majestro wie aus dem Sherwood Forest entsprungen: Robin Hood im Nachthemd betritt die Bühne; — daß heißt: seine leicht bekifft wirkende Fangemeinde trägt ihn unter glücklichem Dauergrinsen.

Womit die altbekannte Geschichte ihren Lauf nimmt. Die Hippiegemeinde um Jesus agiert, singt und tanzt rund um eine karge Kulisse — einem Gerüst aus Stahl und Stein — arglos dem Tod ihres Herrn entgegen. Insgesamt blieb die Inszenierung durchgängig dem bewährten Konzept der Hippisierung treu: Die Rollen waren die, die vor zehn Jahren festgelegt und via Kinofilm 1973 in jeden Winkel der Welt verbreitet wurden. Jesus als der ewige Spielverderber seiner vergnügungssüchtigen Bande, mal wütend, mal melancholisch, mit einem Hang zu dramatischen Gesten (Was bei Herrn Little eher ins Komische tendierte). Judas als aggressiver Rebell und selbstgerechter Neider, Maria Magdalena (Glory Crampton) als die geleuterte Hure (»I've been changed, yes really changed«), Petrus, Johannes und Co. als treue, trinkfreudige Gefährten. Die Hohepriester sind natürlich machtgeile alte Böcke, Herodes ist ein gleichsam dummdreister wie fetter Weiberheld in Bermudashorts und Pilatus eine rückgratlose Marionette.

So bleibt das Stück trotz der fetzigen Musik, des weitgehend guten bis sehr guten Gesangs und der stimmungsvollen Inszenierung insgesamt brav. Nett zwar die — wenigen — Tanzeinlagen des Strapsballetts, das besonders dadurch gefällt, daß endlich einmal Tänzerinnen mit kurzen, dicken Beinen berücksichtigt wurden. Und auch der Schlußpart, wo der erst kürzlich verstorbene Judas als eine Mischung aus Mick Jagger und Engelbert wiederaufersteht, entbehrt nicht einer gewissen Komik, ebensowenig wie der am Kreuz hängende Gottessohn, der plötzlich seinen leblosen Kopf wieder hebt und dem Publikum ein strahlendes Lächeln schenkt.

Und doch, eine gewisse Unzufriedenheit ist nicht zu leugnen. Wo, so bohrt es tief drunten, ist die Innovation? Die Neuinszenierung? Die Provokation? Tatsächlich hat sich das einst so umstrittene Musical — in Argentinien brannten empörte Christen ein Theater nieder, Webber rächte sich mit evita — in zehn Jahren so wenig verändert wie die Oberammergauer Passionsspiele. Es wird dadurch — auf seine Art — ebenso bieder. Denn die Inszenierung (Hugh Woldridge) traut sich nichts, was sie sich nicht schon vor zehn Jahren getraut hätte.

Alle fälligen Enthüllungen bleiben überfällig. Nehmen wir die Beziehung zwischen Jesus und Maria: Sie beschränkte sich wie gehabt auf Nacken- und Seelenmassage, anstatt das Liebespaar — endlich, endlich — einmal kopulieren zu lassen. Wieder kleiden sich die Hohepriester in rote Roben, statt die weiße Papstkluft des Herren Wojtila aus dem Schrank zu holen. Auch Judas ist und bleibt Judas. Was hätte aus ihm werden können: Ein Geheimdienstler, ein verräterischer Terrorist, ein Rambo! Und erst der Superstar: Was für eine Überraschung, wenn unter seinem Nachthemd das Superman-Shirt hervorkäme und er mit geballter Faust gen Himmel und auferstehen würde! Oder sich das marternde Kreuz als Schaumstoffattrappe erwiesen hätte und der Gottessohn samt Kreuz dem Finish entgegen-»breakdanced«! Welch Erfolg bei den Kids!

Nein, niemals? Aber zumindest mit seinem Lächeln vom Kreuz steigen könnte er ja, und von der Bühne laufen. Oder vernünftig auferstehen, so mit Laser und Sputnik und so. Vielleicht kann ihn ja sein Papi mit dem Raumschiff abholen. Man sollte doch einmal Steven Spielberg eine Bibel schenken. Dann ginge es endlich wirklich ab: Kevin Costner und Julia Roberts in: Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn, Teil zwei. Michaela Schießl