Kein Schrei nach dem Turmhaus

■ Hochhaussympathisanten diskutierten Mies van der Rohes Turmhaus-Projekt (1921/22) am Bahnhof Friedrichstraße/ Aufbau wäre »Fälschung«/ Keine Rekonstruktion des »imaginären Hauses«

Berlin. Ein Hochhaus nach einem Entwurf Ludwig Mies van der Rohes am Bahnhof Friedrichstraße wird es nicht geben. »Die postume Verwirklichung eines nicht realisierten Wettbewerbsbeitrags aus den Jahren 1921/22 käme einer Fälschung gleich«, stellte der Kölner Architekt Oswald Mathias Ungers fest. »Das Original der gläsernen Architekturutopie«, die wegen ihrer konstruktiven Ästhetik als Prototyp des modernen Hochhauses gilt, »ist die Skizze«, polterte Ungers in der »Neuen Nationalgalerie«, wo sich am Freitag abend eine illustre Architekten-Schar zum Mies-van-der-Rohe-Symposion verabredet hatte: Sogenannte »Stararchitekten«, wie die Hochhaussympathisanten Josef Paul Kleihues und Hans Kollhoff aus Berlin, waren dabei, Gene R. Summers und Franz Schulze aus Chicago sowie Rem Koolhaas aus Rotterdam und Ignasi de Sola aus Barcelona, debattierten mit. Indessen, der »Schrei nach dem Turmhaus«, wie die 'Bauwelt‘ die Hochhauseuphorie 1921/22 charakterisierte, fand in der »Neuen Nationalgalerie« nicht statt. Der zackige Kubus erschien den Mies-Fans mehr als Kunst denn als mögliches Bauvorhaben. Das 22geschossige Hochhaus, in den zwanziger Jahren ein expressives Fanal, ginge heute als Block unter, inmitten der baulichen Tristesse am Bahnhof Friedrichstraße.

Den aktuellen Bezug des imaginären Monuments des 20. Jahrhunderts, von dem sich einzig der Berliner Bau-Yuppy Fritz Neumeyer »ein Nachliefern der Utopie für die Realität« wünschte, gab die geplante Auslobung des städtebaulichen Wettbewerbs aus dem Hause des Stadtentwicklers Hassemer — 70 Jahre nach dem »Ideenwettbewerb Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße«. Auslober war damals die »Turmhaus AG«. Die Absicht des Investors erschien zeitgemäß, galt doch der Wolkenkratzer als Symbol moderner städtischer Bauentwicklung. Er sollte dem schmuddeligen Areal am Bahnhof die Note weltstädtischen Flairs geben. 1922, nach der Veröffentlichung der Preisträger, entschied sich die Turmhaus AG, nicht den Gewinner des Ideenwettbewerbs zu prämieren, sondern einen eigenen Entwurf zu präsentieren — der ebensowenig realisiert wurde wie spätere Versuche.

Spannend wäre der Abend gewesen, hätten Neumeyer und Co. Parallelen zu heutigen Investoren-Intrigen gezogen oder zum Thema Hochhaus debattiert. Heraus kamen statt dessen Beschwörungsformeln des Mies- Projekts, die dem Meister wahrscheinlich selbst peinlich gewesen wären. Der Entwurf, so Neumeyer, habe in Berlin immer noch einen »mythischen Klang«. Das »Dokument der Moderne« (Summers), drücke eine »urwüchsige Kraft aus, die aus dem Innern kommt« (Kollhoff). Das imaginäre Haus, so Vittorio M. Lampugnani, Chef des »Deutschen Architekturmuseums« in Frankfurt, sei als Bild so manifest, daß man die Phantasmagorie gar nicht mehr bauen brauche. Der »Geist Mies van der Rohes« (Koolhaas) sei dort zu polemisch, vorstellbar wäre höchstens ein »Architekturlabor«, sagte Ignasi de Sola, das etwas von dem Gefühl moderner Aufbruchstimmung in sich trage. Rolf R. Lautenschläger