Die Kunst der blaugefärbten Beine

■ Von mutigen Drahteseldompteuren im Dornenstand, bockigen Kindheitsabenteuern und der jahrelangen Tortur von aus der freien Wildbahn entrissenen Velos erzählt uns Olga O'Groschen.

Kreuzberg. Als wir unser erstes Fahrrad bekamen, begann der Ernst des Lebens. Es lehnte am Gartenzaun und starrte uns mißmutig an. Stiegen wir endlich auf und rollten vorsichtig los, so bockte es plötzlich hoch und schlug uns den Lenker um die Ohren. Beim zweiten Versuch, den Hang hinab, stellte sich das Vorderrad quer, so daß wir kopfüber in den nächsten Misthaufen segelten. Nein, es war nicht leicht, unsere Drahtesel zuzureiten. Zumal wir in jenen Jahren mit merkwürdigen Mutationen der Spezies Fahrrad zugange waren. Miniklappräder hatten die einen, Bonanzaräder mit Bananensatteln und diesen tierisch-krummen Chopperlenkern die anderen. Und als wir endlich sicherer im Sattel saßen, versuchten wir den Kickstart vor der Ampel...

Wer sich von diesem Kindheitstrauma nicht erholt hat, traf sich am Samstag zur Berliner Meisterschaft im Kunstradfahren am Südstern. Als die funkelnden Räder in die weite Arena der Carl-von-Ossietzky- Turnhalle einrollten, gab es erste Ovationen der knapp fünfzig Zuschauer. Statt knisternder Zirkusluft herrschte eine freundlich familiäre Atmosphäre, was auch daran liegt, daß derzeit nur drei Vereine in Berlin diesen Sport betreiben. Die Neuköllner, Spandauer und Ostberliner schickten insgesamt 23 Aktive in die Wettbewerbe. Im Zeitalter der BMX- und Mountain-Bikes werden die rund hundertjährigen Vereine von Nachwuchssorgen geplagt. Dem unwissenden Betrachter wird rasch klar, warum. Hier sind keine Zauberer auf Einrädern unterwegs, die nebenher mit zwanzig Kegeln jonglieren und Feuer speien, sondern Handwerker auf recht normalen Fahrrädern, die stur im Kreis fahren und festgelegte Übungen absolvieren. Das ist immer noch verblüffend genug. Was treibt einen gewöhnlichen Neuköllner dazu, sich auf die Naben seines Rades zu stellen und die Pedale per Hand anzukurbeln? Einen Kopfstand auf dem Sattel zu vollführen? Sich auf die nicht vorhandene Vorderleuchte zu setzen und das Rad rückwärts zu steuern? Unsere Frage wird geheimnisvoll lächelnd quittiert. »Tjaaa, das ist Kunst.«

Eine Kunst, die auf jahrelang blaugefärbten Schienbeinen gründet. Das Einstiegsalter liegt bei acht Jahren, etwa zehn Jahre später kann man allmählich an die Pirouette auf dem Hinterrad denken. Oder an den Raddrehstand. Der Radkünstler hat sich mit beiden Füßen auf die Lenkstange vorgearbeitet, grüßt hoheitsvoll die atemlosen Zuschauer, während er mit sanftem Schwung das Vorderrad herumreißt. Der kleine Drahtesel aber zieht stumm seine Kreise, während sein Herr den prasselnden Applaus abschöpft.

Die Kunsträder sind die Leidtragenden dieses Sportes. In den Pausen stehen sie auf Sattel und Lenker aufgebockt am Rand der Halle. Ein trauriger Anblick. Dabei könnte so ein Kunstrad ein unbescholtenes Leben in freier Wildbahn führen, von einigen verkehrstechnischen Zusätzen einmal abgesehen.

Ungewohnt ist sicher die strenge 1:1-Übersetzung, auch der Rückwärtsgang bedarf der Gewöhnung. Ihre Reifen jedoch sind mit dem mörderischen Druck von 11 Atü versehen, um die Räder auf Trab zu halten, wenn der Sportler den Dornenstand darbietet. Besonders teuer sind die Räder nicht, zwischen 1.000 und 2.000 DM muß man für ein teures Gefährt hinblättern. Meist werden sie von den Vereinen gehalten und erweisen sich als äußerst geduldige und strapazierfähige Wesen.

Nur zuweilen kommt ihnen die Galle hoch ob der jahrelangen Tortur. Dann bleibt das Rad bockig auf dem Fleck stehen, so daß sein Herrchen eine punktabträgliche Bodenberührung erfährt. Von den Kollegen am Rand der Halle vermeint man ein leises Lachen zu hören.