Chimäre

■ In Bosnien-Herzegowina erweist sich die Kantonisierung als Kopfgeburt

Chimäre In Bosnien-Herzegowina erweist sich die Kantonisierung als Kopfgeburt

Dreißig Tote in Bosanski Brod, Luftwaffenangriffe auf Industrieanlagen, eine Bombenexplosion in einer Moschee — in der Dreivölkerrepublik Bosnien-Herzegowina stehen die Zeichen wieder auf Krieg. Das Agreement von Lissabon, das den bewaffneten Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Sarajevo ein Ende gesetzt hatte, erweist sich nun als Chimäre. Vor einem Monat hatten sich die Moslems, die Serben und die Kroaten auf eine „Kantonisierung“ der Republik geeinigt. Inzwischen verhehlen moslemische Politiker nicht mehr, daß man der serbischen Forderung nach Bildung von Kantonen mit eigener Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz nur nachgegeben habe, um eine Anerkennung der Republik durch die EG zu beschleunigen. Die Serben ihrerseits haben nun eine eigene Verfassung verabschiedet, nach der die serbischen Gebiete dem geplanten verkleinerten Jugoslawien beziehungsweise vergrößerten Serbien angeschlossen werden sollen. Es ist eine offene Mißachtung des Referendums, bei dem Ende Februar — bei weitgehender Enthaltung der Serben, die fast ein Drittel der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ausmachen — über 99Prozent für die Unabhängigkeit der Republik votiert haben. Die Kroaten, politisch in Anhänger einer Unabhängigkeit und in Befürworter eines Anschlusses an Kroatien gespalten, scheinen ebenfalls bereit, die Unterschrift unter das Lissaboner Papier zu vergessen.

Kantonisierung — das hörte sich nach friedlichem Zusammenleben nach Schweizer Modell an. Doch während in der helvetischen Republik die sprachlich definierten Volksgruppen in klar abgrenzbaren Gebieten leben und die Kantone, oft durch Sprachgrenzen gespalten, ihre Identität aus der Geschichte beziehen, sollte die Kantonisierung Bosnien-Herzegowinas von vornherein auf Prinzipien ethnischer (im strengen Sinn: religiöser) Segregation beruhen. Da aber in der ex-jugoslawischen Republik in kaum einer größeren Stadt eine absolute Mehrheit einer der drei Volksgruppen angehört, würde der Kantonisierung der Republik nach ethnischen Kriterien zwangsläufig eine Kantonisierung der Kantone folgen müssen. Es sei denn, man löst das Problem über die Umsiedelung von etwa zwei Millionen Menschen. Die einzige Alternative zu ethnisch definierten Kantonen und „ethnischer Homogenisierung“ der Bevölkerung besteht in einem Bosnien-Herzegowina, das sich als Republik der in seinen Grenzen lebenden Bürger versteht und den einzelnen Volksgruppen kulturelle Autonomie und Minderheitsrechte verbrieft. Während die Armee den Schutz der Serben bereits zu ihrer Sache erklärt hat und viele Kroaten auf Hilfe aus Zagreb hoffen, sind vor allem die Moslems an dieser Lösung interessiert. Sie laufen Gefahr, zwischen serbischem und auch kroatischem Irredentismus zerrieben zu werden. Thomas Schmid