Einig Volk von Denunzianten

Eine geheime BKA-Statistik belegt die freiwillige Informationslust der Bürger in den alten Bundesländern und die mangelnde Effektivität der West-Geheimdienste/ Ohne Spione und Geheimdienstler, die sich selbst anzeigten, sähe die Bilanz für den Staatsschutz noch magerer aus  ■ Von Falco Werkentin

Seit dem Sturm auf die Stasi-Zentralen wissen wir es: Die DDR war das Land der Denunzianten. Unser freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, in den 70er und 80er Jahren von so manchem Geheimdienst-, Schnüffel- und Abhörskandal geschüttelt, präsentiert sich seit Öffnung der Stasi-Archive in strahlendem Glanze. Während jeder neue Blick in die Aktenbestände der Gauck-Behörde bei den Betroffenen — und bei uns als von den Medien bedienten Voyeuren — neues Erschrecken wachruft, bleiben bundesdeutsche Polizei- und Geheimdienstarchive im wohlbehüteten Dunkel. Was sie, neben operativen Details aus der Staatsschutzpraxis in der alten Bundesrepublik, auch an Quellen zur politischen Moral der Bevölkerung in den alten Bundesländern zu verbergen haben, wird sich erst zeigen, wenn auch diese Archive im Sturm genommen werden. Bis dahin müssen wir uns mit Indizien begnügen. Aber „times are changing“.

Indizien zur politischen Moral im Westen

Seit 1960 führt die Staatsschutz-Abteilung des Bundeskriminalamtes (BKA) eine polizeiliche Kriminalstatistik „Staatsschutzdelikte“. Sie ist als Verschlußsache deklariert, also nur der Gemeinde professioneller Staatsschützer zugänglich. Zum einen gibt die Statistik Aufschluß darüber, wie viele Delikte die Staatsschutz-Dezernate der Länderpolizeien und des BKA von Jahr zu Jahr registriert und verfolgt haben (Tab.2, Spalte II-IV). Zum anderen aber zeigt sie uns, woher die Staatsschützer ihre Hinweise bekommen, wenn Staatsabträgliches im Lande sich zusammenbraut (Tab. 1, Spalten III-X).

Die hier präsentierten Statistiken sollen folgend interpretiert werden als Indizien für die politische Moral der Bewohner der alten Bundesländer, geben sie doch u.a. Nachricht über deren Bereitschaft, den Staatsschutzbehörden zuzuarbeiten.

Hochzeit der Anzeigen: die Siebziger

Tabelle 1 gibt Auskunft, woher die Staatsschutzabteilungen der Polizei erfahren, daß eine politische Straftat begangen worden sei. Entgegen der in der Literatur verbreiteten Annahme, daß Staatsschutzdelikte klassische Kontrolldelikte sind, d.h. Straftaten, die nahezu ausschließlich von darauf spezialisierten Behörden entdeckt, respektive definiert werden (ein anderes Beispiel sind Rauschgiftdelikte), zeigt die Spalte X dieser Tabelle, daß es vor allem die Bürger sind, die Mitbürger politischer Straftaten verdächtigen und es für notwendig halten, der Polizei darüber Meldung zu machen. Im Schnitt der Jahre liegt der Anteil ihrer Anzeigen an der Gesamtzahl registrierter politischer Straftaten bei 65 Prozent.

Schaut man auf die zeitliche Entwicklung, so stieg von 1974 (100 Prozent) bis 1981 die Zahl der von Bürgern der alten Bundesrepublik wegen des Verdachts politischer Straftaten jährlich angezeigten Mitbürger auf 643 Prozent. Ab 1982 gibt es wieder ein leichtes Absinken. Hinzuweisen ist darauf, daß nicht jede Anzeige der Bürger in diese Statistik eingeht. Deren Zahl liegt nach aller Erfahrung erheblich über den letztendlich polizeilich registrierten Delikten. Da die polizeiliche Kriminalstatistik als sogenannte Ausgangsstatistik geführt wird, sind hier nur jene Anzeigen registriert, die die Staatsschützer als plausibel überprüft haben. „Maßgebend für die statistische Erfassung ist, daß bei Abschluß der polizeilichen Ermittlungen noch der Verdacht einer strafbaren Handlung besteht“, heißt es in den Erläuterungen zu dieser Statistik. Ergebnis: Ohne diese tatkräftige Unterstützung durch die Bürger müßten unsere Staatsschützer aus Mangel an Beschäftigung Däumchen drehen.

Geheimdienste als totale Versager

Denn, so fleißig unsere Bürger sind, so gleichermaßen untüchtig sind jene Beamten, deren ureigenster Auftrag die Entdeckung politischer Gefahren und Straftaten mit geheimdienstlichen Methoden ist: von der Spionage und dem Landesverrat angefangen bis zu allen Formen des politischen Extremismus und Terrorismus. Unsere und befreundete Nachrichtendienste (bis 1976 wurde in dieser Rubrik noch differenziert zwischen Hinweisen deutscher und fremder Nachrichtendienste) lieferten seit 1974 der Polizei in dem Maße immer weniger Hinweise auf politische Straftäter, wie sie personell gewaltige Wachstumsringe anlegten und mehr und mehr sich der modernen Datenverarbeitung bedienten. So gab es 1970 bei Bund und Ländern insgesamt 2.480 verbeamtete Verfassungsschützer, bis 1990 war ihre Zahl auf 5.100 gewachsen.

Wie die Spalten V und VI zeigen, sank seit 1974 der Anteil der von den Geheimdiensten den Strafverfolgungsbehörden gemeldeten politischen Straftäter an den jährlich von der Polizei insgesamt registrierten politischen Straftaten von 2,7 auf 0,3 Prozent. Es ist für diese Dienste ein niederschmetterndes Ergebnis, das um so dramatischer — wenn nicht lächerlicher — wird, wenn man diesen Zahlen die Zahl der jährlichen Selbststellungen politischer Straftäter gegenüberstellt. Der vereinte Fleiß von insgesamt ca. 15.600 Beschäftigten beim Bundesamt für Verfassungsschutz, bei den Landesämtern, beim BND und MAD (ca. Stärke 1989) lieferte nahezu in jedem Jahr seit 1974 der Polizei weniger Spione, Terroristen und Agenten, als sich entsprechende Personen selbst den Strafverfolgungsbehörden stellten (vgl. Spalten VII-VIII).

An der Leistungskraft der Dienste gemessen, die seit jeher mit V-Leuten, mit Wanzen und sonstigen modernen Observationstechniken arbeiten, ist die der Polizei geradezu gigantisch (vgl. Spalten III-VI). Dies dürfte sich daraus erklären, daß eine Vielfalt „sonstiger Delikte mit politischem Bezug“ sich in konfrontativen Situationen mit der Polizei ereignet, also bei Demonstrationen, Blockaden etc. Als „sonstige Straftaten mit politischem Bezug“ erfassen die Staatsschützer Delikte wie Sachbeschädigung (z.B. Parolen an Häuserwänden) oder Nötigung (z.B. Blockade einer Kaserne), sofern der Handlung ein politisches Motiv unterstellt werden kann. In der DDR- Kriminalstatistik versteckten sich vergleichbare Bewertungen hinter der strafrechtlichen Kategorie des Rowdytums.

Ein aufgeblähter Apparat verursacht Blähungen

Tabelle 2 zeigt seit 1974 einen dramatischen Anstieg sogenannter Staatsschutzdelikte. Die Zahlen sind zum einen der polizeilichen Kriminalstatistik entnommen, zum anderen der sogenannten Rechtspflegestatistik des statistischen Bundesamtes. Nimmt man das Jahr 1974 mit 2.727 Staatsschutzdelikten als Ausgangsjahr (100 Prozent), so steigerte sich die Zahl registrierter Delikte bis 1986 auf 610 Prozent. Während die Zahl jener Delikte, die auch nach den Straftatbeständen des Strafgesetzbuches Staatsschutzdelikte sind (vgl. Tab. 2, Spalte IV) also etwa Spionage, Hochverrat, Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, seit 1977 auch Bildung einer und Werbung für eine terroristische Vereinigung etc. (vgl. den Straftatenkatalog in den Erläuterungen zur Tab. 2), zwischen 1974 bis 1989 um etwa das Dreifache wuchs, sind die Steigerungsraten bei den „sonstigen Delikten mit politischem Bezug“ noch beeindruckender (vgl. Tab. 2, SpalteIII). So widerspiegelt gerade diese Statistik recht gut das Auf und Ab im Demonstrationsgeschehen und von politischen Bewegungen und Kampagnen in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre. Nimmt man 1974 als Bezugsjahr (100%), so gab es bis 1987 eine Steigerung um fast auf das Neunfache (866 Prozent).

Weitaus weniger dramatisch wird das Bild, wenn man sich anschaut, wie viele politische Straftäter bundesdeutsche Gerichte von Jahr zu Jahr verurteilt haben (Tab. 2, Spalte V-VI). Die sog. Verurteilungsquote (Zahl der verurteilten Straftäter, bezogen auf Zahl der polizeilich registrierten Straftaten) liegt bei den Staatsschutzdelikten im engeren Sinne unter zehn Prozent. D.h., daß nur bei einem von zehn registrierten politischen Straftaten der polizeiliche Verdacht und die polizeilich- staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse hinreichen, um Beschuldigte als Täter zu verurteilen. In den Jahren 1978, 1981 und 1982 erwiesen sich sogar nur 6 Prozent der Fälle als „verurteilungsfähig“ (vgl. Spalte VI). Und in einzelnen Deliktgruppen — so bei den Tatbeständen des 129a StGB (terroristische Vereinigung) — sinkt die Verurteilungsquote gar unter 5 Prozent. Für die „sonstigen Straftaten mit politischem Bezug“ läßt sich die Verurteilungsquote nicht ermitteln, da die Justizstatistik sie nicht gesondert erfaßt.

Wie läßt sich dieser beeindruckende, furchterregende Anstieg politischer Kriminalität in der Bundesrepublik erklären? Hier müssen einige Hinweise genügen. Zum ersten wurde seit den 70er Jahren unter Hinweis auf den Terrorismus das politische Strafrecht der Bundesrepublik kraftvoll um neue Paragraphen ergänzt, die die staatsschützerische „Verteidigungslinie“ weit ins Vorfeld konkreter Tathandlungen verlegten. Es wurden neue Kommunikations- und Organisationsdelikte geschaffen, also das Gesinnungsstrafrecht ausgebaut. So hat im unmittelbarsten Wortsinne der Gesetzgeber neue Formen politischer Kriminalität „geschaffen“. Ein Gesinnungsstrafrecht aber bietet der politischen Denunziation besonders günstige Voraussetzungen.

Zum zweiten wurden insbesondere die Staatsschutzabteilungen der Polizei in diesen Jahren personell aufgerüstet. Mehr polizeiliches, auf die Verfolgung politischer Straftaten und Gesinnungen spezialisiertes Personal produziert im Regelfall mehr „Ermittlungsfälle“. Unter dem Stichwort „Wendland-Syndrom“ wird dieser Zusammenhang seit einiger Zeit auch in den Fachblättern der Polizei diskutiert.

Allerdings, darauf ist bereits hingewiesen worden, fallen die Geheimdienste, die nicht verpflichtet sind, politische Straftaten den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen, aus diesem Zusammenhang zwischen wachsender Personalstärke und wachsenden Kriminalitätszahlen heraus. Darauf ist noch zurückzukommen. Zum dritten verschärfte sich vor dem Hintergrund terroristischer Anschläge und des sog. Radikalenerlasses aus dem Jahre 1972, der die Regelüberprüfung durch die Ämter für Verfassungsschutz für alle Bewerber um Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst einführte, das politische Klima in der Bundesrepublik.

Insoweit ging auch die Strategie der RAF auf, die — Ulrike Meinhof formulierte es 1974 im Strafverfahren um die Befreiung von Andreas Baader — darauf zielte, durch die Aktionen der RAF den offenen Faschismus „herauszukitzeln“, damit die „Volksmassen“ beginnen, sich gegen das politische System zu wehren. Im Bundestag wurden Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Luise Rinser als geistige Ziehväter und -mütter des Terrorismus bezeichnet; der Militärische Abschirmdienst speicherte Böll und andere in seiner „Zersetzer-Datei“, die Beamten des Paßkontrolldienstes des BGS erhielten von den Ämtern für Verfassungsschutz Listen mit Zeitschriften-Titeln, um Reisende, die diese Zeitschriften mit sich führten, als des Extremismus Verdächtige zu Protokoll zu nehmen. Und an den Universitäten bildete sich zur Abwehr „extremistischer“ Gefahren ein „Bund Freiheit der Wissenschaft“, der seinerseits die Ämter mit Gesinnungsinformationen belieferte, ohne daß diese Dozenten und Professoren förmlich als IMs, GMs oder OibEs verpflichtet worden wären. Kurz: Es bildete sich in den siebziger Jahren ein kräftiges Klima politischer Gesinnungsverfolgung aus, Nährboden für die entsprechende Denunziationsbereitschaft.

Im Osten die Stasi, im Westen die Lust

Nun wissen wir es besser: Auch die alte Bundesrepublik ist ein Land der Denunzianten. Wie bei der Anzeige sonstiger, unpolitischer Delikte, sind es auch bei sog. politischen Straftaten in erster Linie die Bundesbürger der alten Länder selbst, die den Mitbürger politischer Straftaten verdächtigen — seit 1974 von Jahr zu Jahr in größerem Maße. Keine ökonomischen Vergünstigungen in einer Mangelwirtschaft, keine systematische Erpressung und Nötigung zu Spitzeldiensten — wie im System der Informellen Mitarbeiter des MfS — hält sie dazu an. Nein, aus freien Stücken frönen sie ihrer — im strafrechtlichen Sinne meist erfolglosen— Denunziationslust.

Von Denunziationslust zu sprechen scheint mir insbesondere deshalb erlaubt, da — wie in Tab. 1, Spalte VI gezeigt — sich im Schnitt der Jahre weit weniger als zehn Prozent aller angezeigten und registrierten politischen Straftaten als „gerichtsfest“ erweisen. (Und was sich bei unseren Gerichten in politischen Strafverfahren als „gerichtsfest“ erweist, wäre es selbst noch wert, auseinandergenommen zu werden!)

So gibt es auch für Altbundesbürger Anlaß, darüber nachzudenken, was in den alten Bundesländern die politische Denunziationsbereitschaft seit Beginn der 70er Jahre so deutlich wachsen ließ, und wenig Grund, sich über die politische Moral der neu hinzugekommenen Bundesbürger zu erheben.

Und unsere Dienste? Sie sollen uns zwar vor Spionage und Extremismus schützen. Nur unterliegen sie nicht dem Legalitätsprinzip, also nicht dem Zwang, ihnen bekanntwerdende Straftaten anzuzeigen. Ihre Mitarbeiter dürfen von Amts wegen Straftäter begünstigen. Dies hat schlechte Gründe, müßten die Dienste doch anderenfalls auch von ihnen oder ihren V-Leuten begangene Straftaten zur Anzeige bringen, müßten sie vor allem jene politischen Szenen dem strafverfolgerischen Zugriff öffnen, in denen ihre V- Leute Teil der Szene sind.

Nur, darum kann es ihnen nicht gehen. Sie benötigen den Gegner als Zeugnis der eigenen Existenzberechtigung wie manche militanten Szenen die Dienste brauchen zur Bestätigung ihres eigenen politischen Gewichts — ein symbiotisches Verhältnis.

Welche Konsequenzen es hat, wenn diese Symbiose, dieses labile Gleichgewicht gestört wird, haben die letzten Jahre gezeigt. Die Dienste sind gräßlich unter Druck kommen, als nicht dank ihrer Tüchtigkeit, sondern aufgrund dramatischer Veränderungen in der politischen Großwetterlage der zentrale Gegner und Spielgefährte aufgelöst wurde.

Nein, unsere Dienste konnten nie ein Interesse daran haben, mit dem Mittel des Strafrechts ihre Gegner zu verfolgen und real auszuschalten. Und so kam es, daß nahezu Jahr für Jahr sich mehr Spione und Agenten, mutmaßliche Hochverräter und Terroristen selbst den Strafverfolgungsbehörden stellten, als unsere Dienste letzteren vermeldeten.

Ein Fall für die Treuhand

Gleichgültig, ob man bereit ist, dieser Interpretation zu folgen, oder für den minimalen Beitrag unserer Dienste bei der Entdeckung und Festnahme von Spionen, Landesverrätern, politisch motivierten Gewalttätern etc. andere Gründe findet: Die Statistik weist die Dienste als so dramatisch ineffektiv aus, daß es für Parlamentarier, die über knappe Haushaltsmittel entscheiden müssen, oder für die Rechnungshöfe, die die sachgemäße und effektive Verwendung öffentlicher Mittel zu überprüfen haben, nur eine Lösung geben dürfte.

Die bundesdeutschen Dienste sind der im Abwickeln leistungsschwacher Unternehmen kompetenten Treuhand-Gesellschaft zu übergeben. Vielleicht gibt es einen Investor, der zumindest an den Bürogebäuden, an den Grundstücken und Villen unserer Dienste gefallen findet und zur Sicherung von Arbeitsplätzen garantiert, daß wenigstens zehn Prozent der ehemals Beschäftigten als Nachtwächter und Frühstücksdirektoren in Brot und Lohn verbleiben. Warum sollte es ihnen anders ergehen als derzeit den Beschäftigten vieler maroder DDR-Betriebe?

Der Autor ist Redakteur bei „Bürgerrechte und Polizei“ (CILIP); auch beide Statistiken wurden von ihm angefertigt.