Flüchtlingsströme verlassen Bosnien

Slavonski Brod, Grenzstadt zwischen Bosnien und Kroatien, wurde am Wochenende zum Flüchtlingslager/ Angst und Mißtrauen auf der Save-Brücke: „Der Krieg kommt“  ■ Aus Slavonski Brod R. Hofwiler

„Der Krieg kommt, der Krieg kommt“, stammelt die alte Frau. Mehr sagt sie nicht. Sie schaut dumpf vor sich hin und trinkt Tee. Das tut sie den ganzen Tag. Die Räume der Grundschule sind vollgestopft mit Flüchtlingen. Sie alle warten. Warten und trinken Tee. Essen will kaum jemand, sprechen auch nicht. Slavonski Brod, Grenzstadt zwischen Kroatien und Bosnien, ist ein großes Sammellager für Flüchtlinge und Reisende geworden. Allein sechstausend Vertriebene sollen in den letzten vierundzwanzig Stunden aus den bosnischen Kampfgebieten über die einzige intakte Brücke von Bosanski Brod nach Slavonski Brod gekommen sein. So die Zählung der Hilfsorganisationen.

Und der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Die Save-Brücke, die einst im Tito-Jugoslawien Bosanski Brod (34.000 Einwohner) mit Slavonski Brod (55.000 Einwohner) verband, ist voll von Menschen. Menschen, die nach Angehörigen suchen oder einen letzten Blick zurück in die Heimat werfen, bevor sie hinüber hasten auf die linke Flußseite der Save.

In Bosanski Brod herrscht Angst in den Straßen. Man traut sich gegenseitig nicht über den Weg. „Nur der Krieg hat die Menschen dazu verdammt, gemeinsam zu flüchten“, versucht Nevzat, ein albanischer Fernfahrer, zu erklären, der mit seinem Sattelschlepper schon seit drei Tagen festsitzt. „Weil die ganze Gegend mit Heckenschützen voll ist, kann ich nur durch das Nadelöhr über die Save.“ Ansonsten würde er nicht zusammen mit Serben, Kroaten und Muslimanen flüchten. Nevzat glaubt die Menschen durchschaut zu haben: „Wir wollen alle unseren eigenen Nationalstaat, und dafür schlagen wir uns eben die Köpfe ein. Doch es wird noch viele Tote geben, bis wir unser Albanien haben.“ — Wenig später zeigt Nevzat im Führerhaus seines Lasters Pistole und Landkarte — eine großalbanische Landkarte: Kosovo, Westmazedonien, ein Zipfel Griechenlands, ein Zipfel Montenegros vereinigt mit dem Mutterland Albanien. „Wenn diese Landkarte ein Serbe findet, schlägt er micht tot, so wie sie hier die Muslimanen und Kroaten umbringen“, sagt Nevzat und lacht.

Übertreibung? Sarkasmus? Blinder Haß? Nein, in Bosanski Brod inzwischen Realität. Denn auch hier begannen die jüngsten gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen insgesamt vierzig Menschen ihr Leben ließen, wegen einer einfachen Landkarte. Anfang letzter Woche hatten nämlich bosnische Zeitungen eine Karte veröffentlicht, in der — gemäß eines Beschlusses der drei bosnischen Volksgruppen mit der EG — die Republik Bosnien in nationale Kantone eingeteilt war. Bosanski Brod würde danach unter einen kroatischen Kanton fallen, und dies, obwohl nur 41 Prozent der 34.000 Einwohner Kroaten sind (34 Prozent der Bevölkerung bestehen aus Serben, 12 Prozent sind Muslimanen). „Unannehmbar“, donnerte Radovan Karadzic, der Serbenführer Bosniens, von dem der Ausspruch stammt: „Sechzig Prozent des bosnischen Territoriums ist historisch serbisches Gebiet.“ Auch die Parteiführer der muslimanischen Volksgruppe beteuerten plötzlich, obwohl sie in Brüssel ihre Zustimmung zur Kantonisierung Bosniens gegeben hatten, es sei völliger Quatsch, Bosnien nach nationalen Gesichtspunkten aufzuteilen. Der Präsident Bosniens, Alija Izetbegovic, ein Muslimane, sprach erneut von der „Unteilbarkeit Bosniens“.

Welche lokalen Umstände dann dazu führten, daß in Bosanski Brod der kriegerische Funke übersprang, darüber kann man nur mutmaßen. Fast jeder Flüchtling in Slavonski Brod hat seine eigene Version, und was von offizieller Seite verlautet, ist nicht weniger widersprüchlich. Glaubt man der Belgrader 'Politika‘, so liegt die Schuld eindeutig in Zagreb: Zwei Bataillone der 108. Brigade der kroatischen Nationalgarde seien mit 1.200 Mann von Slavonski Brod nach Bosanski Brod eingedrungen, um den neuen „kroatischen Kanton“ abzusichern und von bosnischer Vorherrschaft zu befreien. Sie hätten das Massaker unter der serbischen Zivilbevölkerung in Sijwkovac, einen Kilometer vor Bosanski Brod, angerichtet. Der kroatische Sender Slavonski Brod kontert: Die serbisch dominierte Bundesarmee versuche Bosnien und darüber hinaus Slavonien erneut zu destabilisieren. Die Flüchtlinge und die Gastarbeiter, die aus Westeuropa über die Save-Brücke eigentlich in ihre bosnische Heimat reisen wollen, meiden das politische Gespräch. Auch den Gastarbeitern aus München kann man nur den Satz entlocken: „Es kommt Krieg nach Bosnien.“