Vom Staatsakt zum Kulturprogramm

Ein Relikt aus DDR-Zeiten erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit: die Jugendweihe/ 80.000 Teens in den neuen Ländern erhalten die Weihe/ Früher waren 96 Prozent der Jugendlichen dabei/ Salbungsvolle Reden statt Marx-Zitate  ■ Von Barbara Bollwahn

Großer Andrang im „Haus am Köllnischen Park“ am Samstag morgen zu den zweiten Jugendweihefeiern nach dem Fall der Mauer: 200 Jungen und Mädchen aus dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain sind gekommen, um im Beisein ihrer Eltern, Großeltern und Geschwister von ihrer Kindheit Abschied zu nehmen und die ersten, wenn auch noch etwas wackligen Schritte ins Jugendalter zu gehen.

Durch die Eingangshalle strömen die „Nicht-mehr-Kinder“ und „Noch-nicht-Erwachsenen“ in den Saal. Noch schnell ein Blick in den Spiegel, um die Rüschen an der Bluse zurecht zu zupfen und das ungewohnte Kleidungsstück Schlips geradezurücken.

Die 13- und 14jährigen rutschen aufgeregt auf den kratzigen orangefarbigen Sitzen des Kultursaales, denen noch der Geruch nach Partei und FDGB anhaftet, hin und her, tuscheln und kichern hinter vorgehaltener Hand oder halten Ausschau nach ihren Eltern, die, ausgerüstet mit Blumensträußen und Videokameras, auf den hinteren Reihen Platz genommen haben.

Nichts im Saal erinnert mehr an die sozialistischen Jugendweihefeiern in der ehemaligen DDR, bei denen die Jugendlichen feierlich in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen wurden und sich mit dem Eid auf die Arbeiterklasse und den Sozialismus dazu verpflichteten, „aktiv an der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik mitzuwirken“. Keine DDR- Fahnen, keine blauen Fahnen der Freien Deutschen Jugend, keine Jungen Pioniere, die die obligatorischen roten Nelken überreichen, kein Schuldirektor oder Parteisekretär, der Marx, Engels und Lenin zitiert. Ganz zwanglos, fast formlos wird das Kulturprogramm mit wenigen Sätzen eingeleitet. Die Gitarrenklänge einer Studentin der Musikhochschule „Hans Eisler“ verlieren sich auf der großen kargen Bühne. Ein Liedermacher aus Potsdam versucht Probleme, mit denen sich ehemalige DDR-Bürger nach der Wende konfrontiert sehen, musikalisch umzusetzen. Sein Lied vom neuen Bundesbürger, der beim „Bingo“ ein Jahr kostenlos Hundefutter gewonnen hat, endet damit, „daß es ein herrliches Gefühl ist, zu den Gewinnern zu gehören, und daß es egal ist, ob man überhaupt einen Hund hat“.

Dankbar lacht und klatscht das Publikum. Weitere „Kapitalismus- Lektionen“ folgen: GmbH stehe für „Gehört meinem Bruder Helmut“. Wieder Lachen und Applaus.

Als wären die neuen Jugendweihefeiern aus dem Nichts heraus entstanden, spricht der Präsident der „Interessenvereinigung Jugendweihe e.V.“, Werner Riedel, in seiner Ansprache vom Sinn des Lebens und davon, daß „man mit über 13 nicht mehr an den Weihnachtsmann Wunschzettel schreiben kann und sicher sein kann, daß die Eltern, Großeltern und die lieben Verwandten ihn brav abarbeiten“, und davon, daß „der Mensch als einziges Lebewesen im aufrechten Gang geht und nicht auf allen Vieren kriecht“. Mit einer Rose, Urkunde und dem guten Ratschlag, nur mit „ganzen Menschen“ sei das „einheitliche Deutschland zu gestalten“, schickt der Ostberliner FDP-Stadtrat Riedel sie ins neue Zeitalter.

Stolz verkündet Riedel bei der anschließenden Pressekonferenz die hohen Teilnehmerzahlen: 80.000 sind es in den neuen Ländern, davon allein 6.000 in Berlin. Etwas zerknirscht muß er zugeben, daß sich das Land Brandenburg „ausgeklinkt hat“ und seine eigenen Feiern macht, obwohl „diese Feiern nichts mehr mit den sozialistischen Feiern in der DDR zu tun haben“. Die hohe Akzeptanz sei auf das „totale Vakuum“ zurückzuführen, „das durch den Wegfall der Kinder- und Jugendorganisationen in der damaligen DDR, wie die der Jungen Pioniere und der Freien Deutschen Jugend, entstanden ist“.

Mit einem Beitrag zwischen DM 75,— und 89,— kann jeder, unabhängig von seiner Konfession, teilnehmen. Die 80.000 geweihten Jugendlichen dieses Jahr kommen fast ausschließlich aus den neuen Bundesländern. Bei den Teilnehmern aus den alten Bundesländern handelt es sich um zugezogene ehemalige DDR-Bürger. Ob der Interessenverband jedoch jemals so hohe Zahlen erreichen wird wie die sozialistische Jugendweihe, die es seit 1955 gab, ist unwahrscheinlich. Schließlich unterzogen sich Mitte der siebziger Jahre stolze 96,1Prozent aller DDR- Jugendlichen dem sozialistischen Ritual.