...und es dreht sich der Wald

■ »Alles Theater« — Am Samstag war Tag der offenen Tür im Deutschen Theater mit vielen theatralen Attraktionen

Die Schlange der wißbegierig drängenden Menschen ist lang, sehr lang. Ihrem Anführer, einem kleinen, kompakten Mann im blauem Jackett und grauen Hosen, fehlt nicht nur viel Haupthaar, sondern auch ein wenig der Überblick. »Es sind viel zu viele, lassen sie ab irgendwann einfach keinen mehr rein«, raunt er einer Dame am Eingang zu, die nur knapp hinter mir hilflos ihren zu kurzen Arm opfert, um weisungsgemäß die Massen zum Stillstand zu bringen. Es ist Tag der offenen Tür im Deutschen Theater an der Schumannstraße. Annähernd sechstausend Interessierte sind gekommen, um einmal einen Blick hinter die Kulissen dieser traditionsreichen Bühne zu werfen. Heute sind die Werkstätten und Magazine geöffnet, die Profis lassen sich in öffentlichen Proben auf die Finger schauen, und den Kleinsten wird im ehrwürdigen Foyer von fachkundiger Hand der Naseweiß aufs Gesicht gepinselt.

»Nächste Führung 14.30 Uhr, Treffpunkt: Eingangsfoyer Kammerspiele«, höre ich gerade noch die wohl inzwischen Einarmige draußen rufen, dann begebe ich mich mit den anderen auf eine Reise durch die Sphäre des Theaters. Atme diese einzigartige Bühnenluft, die — ich vergesse es immer wieder — viel mehr nach Holz als nach Kunst duftet. Fasziniert schreite ich in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus. Und wandle mit bedächtger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle...

Auf den Brettern

»So meine Damen und Herren, jetzt stehen wir auf der Bühne des Deutschen Theaters« ruft mich die Stimme unseres Reiseführers in die Wirklichkeit zurück. Während die Bühnenarbeiter lärmend damit beschäftigt sind, die Probendeko von Prinz Weichherz abzubauen, stehen wir dicht gedrängt lauschend auf der berühmten Naturalismusbühne des Otto Brahm. Im Jahr 1905, zu Max Reinhardts Zeiten, »drehte sich in der Schumannstraße 13a im Sommernachtstraum der Wald«, wie es auf Berlins Straßen damals hieß. Hier errichtete Reinhardt die erste Drehbühne Berlins, ließ um einer besseren Akustik willen einen Rundhorizont mauern und revolutionierte die Bühnen- und Beleuchtungstechnik.

Der Herr in den grauen Beinkleidern steht in den Resten der Weichherz-Dekoration, erklärt und bedeutet, zeigt und verweist. Dazu hämmern die Bühnenarbeiter im Takt, und wir staunen und schauen interessiert nach oben und unten. Die Portalbrücke mit den vielen Scheinwerfen hebt sich wie von Geisterhand und gibt den Blick frei auf den 1983 rekonstruierten Zuschauerraum. Willig lassen wir uns weiterführen, drängen uns alle durch den schmalen Mauerspalt im Rundhorizont, der nicht nur angesichts der Besuchermassen viel zu schmal ist. Anders als in anderen Theatern, die mit großen Seitenbühnen gesegnet sind, müssen die Bühnenbauten im Deutschen Theater jeden Abend auseinandergeschraubt, durch den drei Meter schmalen Spalt geschoben und hinter dem Horizont gelagert werden. Ein Opfer für die gute Akustik.

Ein Opfer auch für uns, denn nun stellt sich heraus, daß hier kein Weg mehr hinaus führt. Alle kehrt, marsch, marsch — zurück durchs Nadelöhr. Noch einmal stapfen wir über Reinhardts Drehbühne, auf der die wilden Kerls mit den großen Hämmern bereits damit beschäftigt sind, den am Abend gespielten Nathan einzurichten. Hier eine Stahltür, dort eine nüchterne Treppe, und schon sind wir auf der Bühne der Kammerspiele. Im Theater ist eben alles möglich. Am Rande der Bühne sitzt Sewan Latchinian, dessen Glatze heute ziemlich blaß aussieht. Nervös knetet er einen kleinen Zettel in seinen Händen. Gleich werden seine drei Eleven von der Ernst-Busch-Schauspielschule Szenen aus dem Leben Eduard des Zweiten aufführen. »Schauspieler bilden Schauspieler aus« heißt dieses Projekt, und überall im Haus, auf der Probebühne, dem Rangfoyer und hier in den Kammerspielen, zeigen sich heute erstmals junge Talente ihrem Publikum.

In der Mittelloge

Noch während Mortimer die Lady »in Geilheit anspringt«, zieht es mich weiter. Vorbei an den im Foyer ausgestellten Masken, vorbei am kalten Buffet, vorbei an den Maskenbildnern, die kunstvoll kleine und große Kinder in Frösche oder Irrlichter verwandeln. Ich bin auf der Suche nach »dem Liebespaar« des Deutschen Theaters. Irgendwo hier im Gewühle sitzen jetzt Ulrike Krummbiegel und Daniel Morgenroth mit Thomas Langhoff und stellen sich dem Publikum. Ein riesiger Löwenkopf aus Pappmaché zieht an mir vorbei. »Ein Löwe, ein Löwe«, kreischen die Kinder begeistert und laufen ihm hinterher. Ich irre weiter im Trubel herum, treffe noch einmal auf meine eben verlassene Reisegruppe. »Entschuldigung, haben Sie vielleicht das Liebespaar gesehen?«

Der Herr in den grauen Beinkleidern hat keine Zeit für meine Probleme, er erläutert gerade, daß die Nazis die Berliner Bühnen seinerzeit unter sich aufgeteilt hatten: Göhring »gehörte« der Gendarmenmarkt, wo Gründgens seinen Mephisto gab; Goebbels war für das DT zuständig. Der errichtete die fürstliche Mittelloge, die das von jeher bürgerliche Deutsche Theater bis dahin nicht besessen hatte, und ließ sich darin hofhaltend die neuesten Produktionen »seines« Hauses zeigen. Nach dem Krieg, als die Welt in Schutt und Asche lag, wurde die Loge wieder herausgerissen, das Theater wieder demokratisch. Nun residiert auf Goebbels Platz das Stellwerk.

Weiter wühle ich mich durch die Massen, hier eine Treppe hinauf, dort eine hinunter. Endlich sehe ich sie; ganz züchtig sitzen sie da, die beiden ewig Jungen, ewig Liebenden. Zwischen ihnen der Vater, der Sittenwalter, der Hüter des Mikrophons.

Vorstellung mit Küssen

»Bitte«, fragt Thomas Langhoff, der in der Enge der Zeit die naiven Fragen des Publikums gleich selbst stellt, »wie ist das jetzt mit dem Küssen auf der Bühne?«. »Köstlich« antwortet die Krummbiegel und ihr Partner Morgenroth erklärt: »Vorstellung mit Küssen, das heißt vorher rasieren.« Dann reden sie noch ein wenig vor ihrem Publikum von diesem Publikum, das sich seit der Wende so gewandelt hat. Angst haben die beiden jugendlichen Liebenden, nur noch eine Unterhaltungsinstitution zu sein. Angst (und Wut?) auch, wenn sie neuerdings die dicken Limousinen vor dem Theater stehen sehen, und sich fragen, wo die anderen, wirklich interessierten Zuschauer von früher geblieben sind.

Wie lange Ulrike Krummbiegel eigentlich noch die »Jugendlich-Naive« spielen müsse, wird sie von einer jungen Frau gefragt. »Hoffentlich nicht mehr so lange«, antwortete die Krummbiegel vorsichtig — wer beschwert sich schon gerne neben seinem Intendanten. »Es ist eben ein Glücksfall, wenn jemand die nötige Erfahrung für das Käthchen hat und trotzdem noch so jugendlich aussieht«, sagt Thomas Langhoff bestimmt und drängt nun endlich zum Aufbruch. Denn das Liebespaar des Deutschen Theaters muß noch eine Stunde Autogramme geben. So sieht es der heutige Spielplan vor, und außerdem warten bereits Klaus Pohl und Lothar Trolle darauf, von Chefdramaturg Michael Eberth über das Schreiben von Theaterstücken befragt zu werden.

Man dürfe die Wirklichkeit nicht nur den Journalisten überlassen, kommentiert Klaus Pohl, dessen Erfolgsstück Karate-Billi kehrt zurück am 17. April Premiere im DT hat, seine Arbeitsweise als Autor: »Die Wirklichkeit hinter der Recherche gehört dem Theater«, sagt er, und der gelte es nachzuspüren; diese Wirklichkeit müsse der Autor finden und umsetzen, erklärt Klaus Pohl wortgewandt und publikumswirksam. Lothar Trolle, in monströser Fliegerlederjacke, hält die Arme abwehrend verschränkt. Er sieht das alles ganz anders. Seine Recherche für den Hermes beschränkte sich gerade auf eben diese »Zeitungsschnipsel und ein wenig drumrum«. Wie denn dann seine Texte entstünden, will Michael Eberth von ihm wissen. »Auf der Schreibmaschine«, blafft Trolle zurück, der dem Gesprächsleiter wohl noch nicht verziehen hat, daß man ihn nur als Ersatz für den erkrankten Philip Ridley (Der Disney-Killer, demnächst am DT) angekündigt hatte. Oder war es die arrogante Anmoderation, in der es hieß, Lothar Trolle habe bereits »Kulissen bewegt«, bevor er mit dem Schreiben begonnen habe? Der ehemalige Bühnenarbeiter und Autor Lothar Trolle fühlt sich auf dem Chippendale-Stühlchen sichtlich nicht wohl. Verbockt und einsilbig läßt er die Gesprächsprozedur im überfüllten und überheizten Rangfoyer an sich vorübergleiten.

Aus dem Spatzenhirn

Immer wieder führt er Michael Eberth vor — offensichtlich stimmt die Mischung zwischen den beiden nicht — korrigiert ihn, ärgert ihn, schlägt interaktive Haken. Ob er denn jetzt in Frankfurt, wo Trolle zur Zeit einen einjährigen Autorenvertrag hat, alles abgeben muß, was aus seiner Maschine käme, fragt Eberth. »Aber aus der Maschine kommt ja gar nichts!« kontert Trolle, »das kommt ja aus dem Spatzenhirn!«. Soviel zum Thema Frankfurt, soviel zum Schreiben von Theaterstücken — und leben muß ja schließlich auch ein Lothar Trolle.

Dann haben alle genug vom Schreiben, vom Reden, vom Theatermachen und vom Zuhören. Keine weiteren Fragen aus dem Publikum, der Worte sind genug gewechselt. Noch einmal streife ich am abgegessenen Buffet vorbei, bestaune die ausgestellten Rundköpfe und Spitzköpfe, lasse eine Karawane, das Pferd, den Löwen von eben, die Giraffe und einen eitlen Gockel an mir vorüberziehen. »Fidirallala«, gröhlt es aus einem riesigen Clown mit Klampfe, der heute von Berufs wegen viele kleine Lauras und Lottes belustigen muß. »Voll geil, wa!« versichert sich ein kleiner Wassermann seiner eigenen Begeisterung, »escht, ey!«. Zieht da nicht Rosemarie Schauer ein Kamel am langen Bändel? Ihr wißt, auf unsren deutschen Bühnen/ Probiert ein jeder, was er mag;/ Drum schonet mir an diesem Tag/ Prospekte nicht und nicht Maschinen/.../ An Wasser, Feuer, Felsenwänden,/ An Tier und Vögeln fehlt es nicht. Heißt es bei Goethe.

Irgendwo am Rand steht eine erschöpfte Ulrike Krummbiegel. So ohne Scheinwerferlicht und von nahem sieht sie wirklich nicht mehr wie die Jugendlich-Naive aus. Eher wie eine sehr interessante, aber auch sehr erschöpfte erwachsene Frau. Es ist eben heute »Alles Theater« im Deutschen Theater. Noch lange dreht sich an diesem Tag der Wald in der Schumannstraße 13a, der mit dem weisen Nathan beendet wird. Die Vorstellung war ausverkauft. Klaudia Brunst

Am 10. April Tartuffe , am 12. April Der Disney-Killer und am 17. April Karate-Billi kehrt zurück . Am 2. und 4. April gastiert Ignaz Kirchner vom Burgtheater Wien in den Kammerspielen.