Eine Bastion des Kiezbewußtseins

■ Serie: Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 11)/ Mit der dorfähnlichen Atmosphäre des Tiergartens ist es bald vorbei/ Auf den Bezirk kommen die Dimensionen des Regierungssitzes zu

Tiergarten. Wer die graue Turmstraße mit ihren billigen Läden, den Menschentrauben jeglicher Nationalität, den struppigen Bäumen und den Tauben entlangläuft, nahe der Simulation eines Parks — dem »Kleinen Tiergarten«—, in dem türkische Jungen Fußball spielen, vorbei an den kleinbürgerlichen, schlecht erhaltenen Mietskasernen, an der Arminiushalle mit ihren Fisch- und Asiaticaständen sowie der rotgemauerten St. Johannis- und der Heilandskirche im Zentrum von Moabit, fühlt sich kaum wie in einer Metropole.

Dabei wird der ehemalige Mauerbezirk Tiergarten bald wohl oder übel zum Mittelpunkt der Metropole werden. In Tiergarten wird der Bundeskanzler seinen Amtssitz beziehen, hier ist das Parlamentsviertel geplant, Daimler und Sony bauen demnächst am Potsdamer Platz, und womöglich wird auch der geplante Zentralbahnhof sein Haupt über den Tiergarten erheben.

In der Tiergartener Bezirksverordnetenversammlung am Donnerstag abend wird allerdings um anderes gestritten. In dem runden BVV-Saal in der Mitte des Rathauses steht die Kündigung einiger betreuter Jugendwohngemeinschaften wegen der steigenden Gewerbemieten auf der Tagesordnung. Danach geht es um eine Schule auf dem Gelände von KWU-Siemens — dem größten innerstädtischen Industriegebiet von Berlin —, die das Bezirksamt dort einrichten will, sowie um den Fleischgroßmarkt an der Beusselstraße. Schließlich beantragt die grün-alternative Liste, die nutzlos gewordene Tafel, die an das entschwundene Deutsche Historische Museum erinnert, zu entfernen. Lange wird über einen — letztlich erfolglosen — Abwahlantrag gegen Dieter Ernst, den Tiergartener Sozialstadtrat der CDU, geredet. Sein Amt hat einer alleinerziehenden Mutter Sozialhilfe verweigert, weil sie Erziehungsgeld bezog — eine Entscheidung, die nicht rechtmäßig war und inzwischen revidiert wurde. Das Tiergartener Sozialamt ist für Geiz berüchtigt.

Tiergarten ist so arm wie SO36, aber ohne dessen Ruf und ohne die vielen Sozialprojekte«, sagt ein Moabiter. »Tiergarten gibt es eigentlich gar nicht«, sagt ein anderer. Tiergarten besteht zum einen aus Moabit, einer von Spree und Westhafenkanal sowie von Gleisanlagen umschlungenen Insel. Südlich davon liegt der große Tiergarten. Daran grenzt Tiergarten-Süd mit dem Regierungsviertel, dem Kulturforum, mit dem Potsdamer Platz, dem großen Stern, dem Hansaviertel und den schicken IBA- Neubauten, aber auch mit dem Nordteil der hektischen und schmutzigen Potsdamer Straße an. Moabit, der Norden wiederum, zerfällt in viele kleine Kieze, deren Bewohner ein ausgeprägtes Kiezbewußtsein haben: in den Beusselkiez, den Huttenkiez, den Stefanskiez, den Kiez um die Lübecker Straße und den ganz besonderen Lehrter-Straßen-Kiez, der Stadtbrache, wo durch die jahrzehntelange Drohung der geplanten Westtangente die Häuser verfielen.

Die Geschichte Moabits begann 1719, als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm 23 Hugenottenfamilien nahe der heutigen Stromstraße ansiedelte. Östlich davon, dort, wo sich heute Baustofflager und Gleisanlagen erstrecken, wurden die kaiserlichen Schießpulvermühlen erbaut. Später kamen Kasernen, ein Exerzierplatz und ein Zellengefängnis dazu. Ab 1840 parzellierte und verkaufte die Stadtverwaltung eine Reihe von Grundstücken inmitten von Moabit. Die ersten Mietshäuser entstanden. Häfen, Güter- und Personenbahnhöfe, Fabriken — darunter Borsig — und große Durchgangsstraßen kamen dazu.

All dies ist heute noch spürbar. Der Knast ist in Moabit geblieben, das Kriminalgericht in der Turmstraße, die zentrale Sammelstelle für Asylbewerber, wie auch riesige, oft vergammelte Bahnflächen. Und Moabit wird heute mehr denn je vom Verkehr durchflutet. Zusätzlich droht der vom Senat geplante Innenstadtring, und die vielen neuen Dienstleistunszentren — vom Bolle- Gelände im westlichen Spreebogen bis zum World Trade Center am Klingelhöferdreieck — werden noch weiteren Verkehr anziehen.

Dafür fehlen Schulen und Kindertagesstätten, denn viele vom Bezirk gewünschte Standorte sind blockiert durch Planungen der Bahn oder des Bundes. Überhaupt der Bund: Seit sich die Hauptstadtplanungen verdichten, wird der Bezirk in seiner Kompetenz mehr und mehr entmachtet. Die Bebauungspläne für das Regierungsviertel etwa werden dem Bezirk demnächst per Hauptstadtvertrag aus der Hand genommen. Und selbst die Bauleitplanung für Daimler Benz, formell noch Bezirkssache, macht in Wirklichkeit ein vom Senat beauftragtes privates Büro.

Sozialstadtrat Ernst kandidiert für das Amt des Bürgermeisters. Der farblos wirkende Mittvierziger bekleidete dieses Amt schon einmal, bevor er es nach der letzten Bezirkswahl an den derzeit amtierenden Wolfgang Naujokat (SPD) abgeben mußte. Der voluminöse Naujokat war zuvor Baustadtrat in Tiergarten, ein Amt, das jetzt Horst Porath (SPD) bekleidet. Weitaus bekannter ist der Bürgermeisterkandidat der grün-alternativen Liste, Christian Ströbele. Der grauhaarige charismatische Ströbele, der so packend reden kann, daß man ganz vergißt, sich zu fragen, was er eigentlich sagt, war zuvor Vorstandsprecher der Bundesgrünen und gilt als Vater der Berliner rot-grünen Koalition. »Nur« als Bürgermeister von Tiergarten — oder gar als einfachen Bezirksverordneten — mag man ihn sich kaum vorstellen.

Abgesehen von den Baufragen, bei denen AL und SPD eine Front bilden, herrscht in der BVV eine große Koalition zwischen Roten und Schwarzen. Nur was die bevorstehende Entmachtung durch den Senat angeht, sind sich alle Parteien einig. Porath besteht darauf, daß er seine Bebauungspläne selber machen darf, die AL besteht auf Bürgerbeteiligung, und selbst Ernst protestierte scharf gegen Pläne der Abgeordnetenhaus-CDU, eine zentrale Baugenehmigungsbehörde für Bundesbauten zu schaffen.

»Tiergarten«, sagt der Dortmunder Ulli Hellweg, als Chef der dortigen Stadterneuerungsgesellschaft S.T.E.R.N. eine Art graue Eminenz, »ist wie das Ruhrgebiet, deshalb mag ich es.« Trotzdem verläßt Ulli Hellweg in diesen Tagen Tiergarten, um Stadtbaurat in Kassel zu werden. Seine letzte Amtshandlung war ein Vortrag vor 500 Mitarbeitern des Tiergartener Bauamtes über die praktische Anwendung des Baurechts, vor allem über die Milieuschutzsatzung, die in Tiergartens Altbaugebieten zum ersten Mal in Berlin festgesetzt wurde. Nachdem die Sanierung des Bezirks mit öffentlichen Geldern jahrelang kaum vorankam, sehen sich deren Bewohner nun dem Umstrukturierungsdruck der Metropole ausgesetzt. Die Satzung, die der Bezirk mühsam gegen den Senat durchsetzte, soll »Herausmodernisierung« verhindern. Ob das reicht, um Tiergarten vor der Metropole zu schützen, wird sich zeigen. Eva Schweitzer

Die Serie wird am Freitag mit Hellersdorf fortgesetzt