Westliche Verbrüderungsträume im bösen Osten

Auf dem „Helsinki-Bürgerforum“ war Antirassismus ein Thema — das allerdings nur für Westler  ■ Aus Bratislava Andrea Böhm

Sich in diesen Zeiten in der Immigranten- oder Flüchtlingspolitik zu engagieren garantiert ein Übermaß an Frustration. Es sei denn, man sitzt wohlbestallt im Innenministerium irgendeines europäischen Landes und bastelt an neuen Einreiserestriktionen, Ausländergesetzen oder EG- weiten Abschottungsmaßnahmen, die früher oder später auf irgendeinem Gipfeltreffen abgesegnet und mit einem standesgemäßen Bankett gewürdigt werden. Weniger aus Neid auf Büffet und Protokoll als vielmehr aus dem Bedürfnis nach etwas mehr politischer Relevanz sehnt sich demgegenüber so mancher Vertreter von Immigrantengruppen nach einem europaweiten Gipfeltreffen.

Drei Tage lang bot sich jetzt immerhin Gelegenheit zum Informationsaustausch: Fremdenhaß und rassische Diskriminierung war eines der Schwerpunktthemen auf dem „Helsinki Citizens' Assembly“, das am Wochenende unter dem Motto „Neue Mauern in Europa — Nationalismus und Rassismus“ in die slowakische Hauptstadt Bratislava eingeladen hatte.

Fast beiläufig stellten Experten und Zuhörer dabei fest, daß das beliebteste Horrorszenario der letzten zwei Jahre offensichtlich in den Medien keine Konjunktur mehr hat: die so häufig prognostizierte „Migrationswelle“ aus Osteuropa, vor allem aus der inzwischen zerfallenen UdSSR.

Keine Migrationswelle aus dem Osten

Insgesamt, so Rainer Münz vom „Demographischen Institut“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sind zwischen 1950 und 1991 11 bis 12 Millionen Menschen aus dem Ostblock Richtung Westen emigriert — darunter 2,1 Millionen aus Polen, 1,5 Millionen aus der UdSSR und 4,6 Millionen aus der DDR. Die meisten taten dies mit infrastruktureller Hilfe der Aufnahmeländer: Israel bemüht sich nach wie vor nach Kräften, russische Juden ins Land zu holen, die Türkei zeigte sich aufnahmewillig, wann immer es um Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien ging. Am weitesten aber breitete die Bundesrepublik ihre Arme aus: Dort landeten rund zwei Drittel der Ost- West-Migranten seit 1950.

Selbst wenn man die Emigranten oder Flüchtlinge aus der DDR abzieht, bleibt die Bundesrepublik Spitzenreiter. Mit ihrer Deutschstämmigkeit als Eintrittskarte wurden Immigranten aus der Sowjetunion, aus Polen und Rumänien ins Land geholt — in jene Nation also, deren Regierungsvertreter nach wie vor den Begriff „Einwanderungsland“ verabscheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Daß sich über die nächsten zwanzig Jahre weitere zehn, zwölf oder fünfzehn Millionen Menschen aus Osteuropa auf den Weg gen Westen machen, wollte Rainer Münz keineswegs ausschließen. Wohl aber, daß dies den westeuropäischen Ländern in irgendeiner Weise schaden könnte. „Wenn eine solche Wanderung gefährlich wird, dann für die Herkunftsländer, die ihre hoch qualifizierten und gut ausgebildeten Leute verlieren.“

Wie dringend gerade westeuropäische Länder in den nächsten Jahrzehnten auf Immigranten angewiesen sind, darauf haben in den letzten Monaten Demographen und Ökonomen in Deutschland, Frankreich oder auch Großbritannien aufmerksam gemacht. Das zukünftige Wohl der „Grande Nation“ zum Beispiel ist nach Überzeugung des staatlichen Statistikamtes INSEE nur zu garantieren, wenn zwischen den Jahren 2000 und 2009 mindestens 150.000 Einwanderer ins Land geholt werden. Daß vor allem die Immigranten aus Nicht-EG-Ländern — egal, ob sie bereits vor zwanzig Jahren gekommen sind oder erst kommen werden — im europäischen Binnenmarkt nicht den Part der Underdogs in einer „Sklaven-Herren-Beziehung“ zugeteilt bekommen, war eine einhellige Forderung der Konferenzteilnehmer in Bratislava.

Von den 14 Millionen Migranten in der EG stammen acht Millionen aus Nicht-EG-Ländern. Sie, die bislang in den Wasserköpfen der europäischen Institutionen kaum zur Kenntnis genommen wurden, haben nun zumindest eine offizielle Adresse in Brüssel: das Immigrantenforum der Europäischen Gemeinschaft, 1991 auf Initiative des Europaparlaments gegründet und von der Europäischen Kommission finanziert. Über 100 Immigranten- und Minderheitenorganisationen sind darin vertreten. Noch haben sie so viel oder so wenig Einfluß wie jede andere Organisation, der bei den Institutionen der EG beratender Status gewährt wird. In Bratislava formulierte der Präsident des Immigrantenforums, Tara Mukherjee, noch einmal die Forderungen, die man bereits beim EG-Gipfel in Maastricht im Dezember letzten Jahres den versammelten Regierungschefs präsentierte: volle Gleichberechtigung von Immigranten aus Drittländern, eine liberalere Flüchtlingspolitik sowie das Versprechen, in keinem Fall mit rechtsradikalen Gruppierungen oder Parteien zu kooperieren.

Antirassistisches Joint-venture

Vorschläge für konkrete Handlungsstrategien kamen vor allem von britischer Seite, der „Commission for Racial Equality“ (CRE). In Großbritannien gibt es seit 1976 ein Antidiskriminierungsgesetz, den „Race Relations Act“, der in bestimmten Bereichen jede Form von rassischer oder ethnischer Diskriminierung verbietet sowie die Aufstachelung zum Rassenhaß unter Strafe stellt. All das sei noch kein perfekter Mechanismus, räumte Nirmalya Bandopadhyay von der CRE ein, „aber ausbaufähig — auch auf europäischer Ebene“.

Zusammen mit dem niederländischen „Nationalen Büro gegen Rassismus“ und der „Königlichen Kommission für Immigrantenpolitik“ in Belgien hat man nun im kleinen versucht, was die westeuropäischen Regierungen schon lange praktizieren: Vernetzung und „Harmonisierung“ der eigenen Interessen. Das belgisch-niederländisch-britische Joint-venture wird demnächst der EG einen Drei-Punkte-Plan vorlegen.

Gefordert wird ein Zusatz zu den Römischen Verträgen, der endgültig die Kompetenz der EG festlegt, gesetzgeberisch gegen rassische Diskriminierung aktiv zu werden; eine entsprechende EG-Richtlinie, die den nationalen Regierungen als Kriterienkatalog für solche Gesetze dienen soll; und schließlich Freizügigkeit und gleiche Rechte für alle Nicht-EG-Bürger, die dauerhaft in einem EG-Land wohnen.

Allerdings blieben die Westeuropäer bei der Diskussion über Rassismus und Xenophobie weitgehend unter sich. Daß in Bratislava oftmals zwei Welten aufeinandertrafen, merkte man nicht nur beim mittäglichen Schlangestehen, das die einen mit Gleichmut hinnahmen und die anderen mit rollenden Augen quittierten. Den osteuropäischen Delegierten, ob aus Kroatien, Armenien, Rußland, Rumänien oder Lettland brannte anderes unter den Fingernägeln, als sich mit Bangladeschern aus Kopenhagen oder Pakistanis aus London über die Definition des „schwarzen Europäers“ auseinanderzusetzen. Was wiederum nicht ausschloß, daß sich in den Pausen auf den Korridoren der Technischen Universität Bratislava zwischen Usbeken und tunesischen Franzosen zum Teil bizarre Debatten über den Islam in Europa entwickelten. Rassismus, erklärte ein lettischer Delegierter freiheraus, sei bei ihm zu Hause kein Problem — höchstens eine Folgeerscheinung, wenn man den heimischen Nationalismus nicht in den Griff bekäme.

Die Debatte über Ursachen und Erscheinungsformen von Rassismus in Osteuropa blieb somit aus — vielleicht auch, weil jene Gruppe, die ihn mit am stärksten zu spüren bekommt, nicht vertreten war: die Roma. Erst gegen Ende der Konferenz erhob sich Protest: Ein junger Medizinstudent aus Bangladesch, der seit sechs Jahren in der CSFR lebt, beklagte die Einseitigkeit der Diskussion: „Wenn ihr hier fertig seid mit eurer westeuropäischen Analyse, gehe ich wieder in mein Wohnheim und schlag' mich mit den Skinheads herum. Ich bin hier, um Medizin zu studieren, nicht um Karate zu lernen.“ Seinen Namen wollte er nicht in der Zeitung sehen. „In Bratislava gibt es vielleicht ein Dutzend Farbige. Die kriegen sofort raus, wer ich bin — und dann gibt's Ärger.“