Zerfallserscheinungen in Äthiopien

■ Beschuldigungen in der Übergangsregierung/ Scheitert die Regionalisierung am Mißtrauen?

Berlin (taz) — Der Frieden in Äthiopien wirkt immer zerbrechlicher: Wachsende Spannungen zwischen den Parteien in der seit letzten Sommer amtierenden Koalitionsregierung gefährden die Stabilisierung nach dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg und stellen den Übergang zur Demokratie in Frage.

Führende Partner in der Regierung in Addis Abeba sind die „Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF) und die „Oromo-Volksbefreiungsfront“ (OLF). Die EPRDF ist ein Bündnis verschiedener Organisationen unter Führung der „Tigre-Volksbefreiungsfront“ (TPLF); sie nahm im Mai 1991 nach jahrelangem Krieg gegen den äthiopischen Diktator Mengistu Addis Abeba ein und stellt seither mit Meles Zenawi den Staatspräsidenten. Die OLF vertritt in der Regierung das äthiopische Mehrheitsvolk der Oromo, stellt unter anderem den Bildungsminister und kontrolliert große Landesteile im Osten und Süden. Zwischen den beiden fliegen nun die Fetzen.

Die OLF habe wichtige Straßen im Osten vermint und verhindere die Versorgung von 600.000 äthiopischen Rückkehrern aus Somalia, die sich nahe der Stadt Jijiga aufhalten, hieß es am Wochenende im EPRDF- kontrollierten staatlichen Rundfunk. Am 11. März habe die OLF die Stadt Harer, Hauptstadt der östlichen Provinz gleichen Namens, mit Mörsern beschossen. Die OLF richtet ihrerseits schwere Beschuldigungen gegen die EPRDF: „Sie haben die Gefängnisse nicht geöffnet“, sagte OLF-Sprecher Taha Ali Abdi der taz. „Sie konsultieren nicht richtig. Sie peitschen Beschlüsse durch die Gremien. EPRDF-Truppen haben viele Leute massakriert.“ Am 25.März sei eine OLF-Versammlung in Watar von der EPRDF unter Feuer genommen worden; 92 Menschen seien gestorben, 300 zum Teil schwer verletzt.

Schon seit Monaten wächst das Mißtrauen zwischen den beiden Organisationen, die offiziell eigentlich verbündet sind. Nach dem Sturz Mengistus hatten die verschiedenen Guerillagruppen Äthiopiens ein Übergangsparlament gebildet, in dem sie alle vertreten sind — wenn auch mit deutlicher Dominanz der EPRDF — und am „runden Tisch“ letzten Sommer eine „Charta“ vereinbart, die unter anderem eine Aufteilung Äthiopiens in weitgehend autonome Regionen vorsah; diese Regionen sollten ethnisch möglichst homogen sein. Damit sollte die bisher immer praktizierte Dominanz des äthiopischen Staates durch die eine oder andere Ethnie beendet werden. Binnen drei Monaten sollten in den neuen Regionen freie Wahlen stattfinden. Diese Wahlen sind jedoch immer wieder verschoben worden; heute ist von Mai oder Juni die Rede.

Die OLF fordert eine internationale Überwachung der Regionalwahlen, da sie der EPRDF nicht über den Weg traut; die Regierung lehnt dies ab. Auf OLF-Forderungen, EPRDF-Truppen müßten vor den Wahlen in die Kasernen zurückkehren, reagiert die Regierung mit dem Hinweis, die verschiedenen ethnischen Regionen seien ohnehin unter Kontrolle der jeweiligen bewaffneten Organisationen. So ist faktisch Äthiopien längst kein einheitlicher Staat mehr.

Nach den Regionalwahlen, so sieht es die „Charta“ vor, sollen sich alle Parteien wieder an einen Tisch setzen und eine neue äthiopische Verfassung ausarbeiten. Ob es je dazu kommt, gilt nach den jüngsten Zerwürfnissen als zweifelhaft. Zwar beteuern alle Gruppen ihre Treue zu den Vereinbarungen der „Charta“ und ihren Willen, den Demokratisierungsprozeß zu einem Abschluß zu bringen. Doch nicht ausgeschlossen ist, daß derweil separatistische Tendenzen anwachsen und zum Zerfall des „äthiopischen Reiches“ führen. „Die Allianz, die zur äthiopischen Übergangsregierung führte, war immer nur eine taktische Allianz“, heißt es in der Oromo-Zeitschrift 'The Kindling Point‘. „Sie wurde nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen geschlossen. Haben die wichtigsten Kräfte in ihr irgend etwas gemeinsam? Nichts.“ D.J.