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: Ein übergelaufenes Faß

■ Auch ein neuer Verteidigungsminister macht noch kein sicherheitspolitisches Konzept

Nur auf den ersten Blick ist der Rücktritt Stoltenbergs wenige Tage vor den beiden Landtagswahlen überraschend. Kohl, der unverständlich lange an dem Skandal- und Pannenrekordhalter festgehalten hatte und Stoltenberg erst anläßlich einer Kabinettsumbildung Ende des Jahres ablösen wollte, hat seinen Machtinstinkt offenbar doch nicht verloren. Die Leitfrage für Kohls Abwägung zwischen zwei Übeln: Was schadet der CDU mehr bei den beiden Urnengängen am nächsten Sonntag? An einen Wahlsieg im hohen Norden glaubte in der Bonner Parteizentrale ohnehin niemand. Mit dem Bekanntwerden der illegalen Panzerlieferungen an die Türkei, in die auch der CDU- Spitzenkandidat in Kiel, Stoltenbergs Staatssekretär Hennig, verstrickt ist, waren zudem alle Chancen dahin, Engholms SPD wenigstens unter 50Prozent zu drücken.

Stoltenbergs Ablösung bringt der Kanzlerpartei in Schleswig-Holstein also keinen entscheidenden zusätzlichen Schaden. Vielleicht wird sie sogar als reinigender Akt eines entschlossenen Kanzlers empfunden und verhilft der CDU zu einigen zusätzlichen Stimmen. Ein entsprechender Effekt könnte in Baden-Württemberg, dem letzten allein von der CDU regierten westlichen Bundesland, die Mehrheit für Ministerpräsident Teufel retten. Ähnlich wie Kohls Begegnung mit Waldheim darauf abzielte, der Abwanderung von CDU-WählerInnen zu den Republikanern vorzubeugen, soll Stoltenbergs Ablösung Stimmen in der politischen Mitte sichern.

So unfähig, korrupt und politisch verbraucht Stoltenberg auch gewesen ist: Allein mit der Auswechslung des Verteidigungsministers werden die gravierenden Probleme dieses Ressorts nicht verschwinden. Denn ihre tiefere Ursache liegt im Fehlen einer geschlossenen sicherheits- und außenpolitischen Konzeption, die den völlig veränderten Bedingungen in Europa und den drängenden internationalen Herausforderungen vor allem mit politischen Mitteln gerecht wird. Eine solche Konzeption haben weder der Kanzler noch seine Partei und deren bisheriger Generalsekretär und künftige Verteidigungsminister Volker Rühe. Auch Koalitionspartner FDP und Außenminister Genscher können hier kaum mehr bieten. Sie verfügen aber über die Fähigkeit der besseren Selbstdarstellung und eine größere Portion Opportunismus, mit denen sie erfolgreich von ihrer politischen Mitverantwortung ablenken. So wie in der aktuellen Affäre der Waffenlieferungen an die Türkei, die das Faß— für Stoltenberg — schließlich zum Überlaufen brachte. Andreas Zumach