Bolivars Erben

Südamerikas „Musterdemokratie“ Venezuela sehnt einen Militärputsch herbei  ■ VON FRANCOIS MISSER

Auf der Hacienda Santa Teresa lächelt der Präsident. Mit Delegierten des „Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften“ besucht Carlos Andres Perez die Rumdestillerie inmitten der Zuckerplantage, 60Kilometer außerhalb der venezolanischen Hauptstadt. Der Rum fließt in Strömen, die lauen Lüfte bringen die Männer in Schwung: Spontan erhebt sich das 68jährige Staatsoberhaupt zu einem erstaunlich brillanten Salsa. Applaus.

„Wir amüsieren uns wie auf der Titanic kurz vor dem Eisberg“, murmelt eine anwesende Lehrerin. Wie auch einige der zuschauenden venezolanischen Gewerkschafter hat sie mit solchem Enthusiasmus ihre Schwierigkeiten. Seit am 4.Februar ein junger Leutnant namens Hugo Chavez mit seinen Gefährten der „Revolutionären Bolivaristischen Bewegung“ erfolglos zu putschen versuchte, lebt das Land unter permanenter Anspannung.

Hugo Chavez mag im Gefängnis sitzen, seine 200 Kompagnons auch — weswegen die Bewegung jetzt „Revolutionäre Bolivaristische Bewegung 200“ heißt. Doch zwei Monate nach dem Staatsstreichversuch sind noch immer Teile der Verfassung suspendiert, der Sozialdemokrat Perez ist einhellig verhaßt, und jeder stellt sich die Frage: Wer putscht als nächstes? Populistische Soldaten mit Unterstützung eines Volksaufstandes? Oder Generäle, die die Rezepte des IWF befolgen wollen?

Unser Chavez

Die Graffiti zum Ruhm des eingekerkerten Hugo Chavez sind überall. Nicht nur auf den Mauern der Zentralen Universität in Caracas. Auch auf den Bergen um die Hauptstadt, wo aus Ziegel- und Wellblechbaracken die vom Ölboom Ausgeschlossenen auf glitzernde Hochhäuser im Tal hinunterblicken.

Für sie ist der „Comandante“ kein Putschist. Er ist ein Patriot, ein Held. Die rote Mütze des Fallschirmoffiziers ist zur Legende geworden und zu einer der beliebtesten Karnevalsdekorationen für Kinder, Symbol der Herausforderung gegenüber der herrschenden Oligarchie. Lieder werden zu seinen Ehren komponiert. Pensionierte Offiziere bedauern öffentlich, daß er sie nicht zum Mitmachen aufforderte. Sogar eine Untergrundversion des Vaterunser macht die Runde: „Unser Chavez, der Du bist im Knast, geheiligt werde Deine Tat...“

Der Chavez-Kult speist sich aus der Unzufriedenheit, die aus dem Elend wächst. Überall sind sie, die an Unterernährung und Kalziummangel leidenden Kleinkinder, die von Rattenbissen gezeichneten Gören, die arbeitslosen Jugendlichen. Auf dem Land, hört man, wütet die Cholera.

Venezuela ist der drittgrößte Erdölproduzent der Welt. Und bis vor kurzem hielt man es auch für die stabilste Demokratie Lateinamerikas. Die letzte Militärdiktatur liegt 34 Jahre zurück. Heute aber sackt der Lebensstandard der Mittelklasse ins Bodenlose ab, Ergebnis der Strangulierung durch die „Strukturanpassung“.

Der Groll darüber ist um so größer, als das Wirtschaftswachstum 1991 stolze neun Prozent betrug. Die Korruption der politischen Klasse liegt in schwindelerregenden Höhen: Mehr als 100 Verfahren gegen hohe Beamte, gegen Senatoren und Generäle sind vor dem Obersten Gericht anhängig. Verurteilungen gab es bisher nicht. Kein Wunder, wenn die Bürger ihre Enttäuschung äußern: Bei den letzten Kommunalwahlen gab es 70Prozent Stimmenthaltungen.

Hinzu kommt der Ärger, der sich unter den mittleren Rängen des Militärs breitmacht. Sie sind selber Opfer der Austerität: Ihr Einkommen ist vielleicht halb so hoch, wie es zur Ernährung der Familie und zur Mietzahlung notwendig wäre. Auch politische Begründungen des Putschversuches werden angeführt: So sei Perez bereit, dem benachbarten Kolumbien die Ausbeutung eines Teils der reichen Erdölreserven im Golf von Venezuela zu gestatten. Damit, so wird argumentiert, begehe der Staatspräsident Verfassungsbruch. Die nationale Souveränität sei in Gefahr. Außerdm befürchten die Militärs, daß Perez sich US-amerikanischem Druck beugt und die Tätigkeit der venezolanischen Streitkräfte, wie bereits in anderen Ländern geschehen, auf Anti- Aufstands-, Anti- Terror- und Anti- Drogen-Aufgaben beschränkt. Doch am schwersten wiegt: immer größere Teile der Bevölkerung sehen keinen Vorteil mehr in der demokratischen Staatsform — um so mehr, als Teile der Verfassung noch immer suspendiert sind und die Repression gegen diejenigen, die für den Putsch auf die Straße gingen, ihren Lauf nimmt.

Cacarolazo

Caracas, 19.März. Auf den Straßen wird demonstriert: für die Wiederherstellung aller Verfassungsgarantien, für eine Änderung des „Wirtschaftspakets“ (die Strukturanpassung), für die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung, für eine Amnestierung der im Gefängnis San Carlos einsitzenden Offiziere. Die Demonstranten sind Studenten und Mitglieder von Stadtteilinitiativen. Erst werden Wasserwerfer mit Tränengas gegen sie eingsetzt. Dann rasen Motorräder in die Menge; ihre Fahrer schießen mit Plastikgeschossen auf Protestler und auf Schaulustige, die von Balkons mit Kochtopfschlagen ihre Solidarität bekunden. Bilanz: Mehr als 30 Verletzte, Dutzende von Verhaftungen.

Bevorzugte Opfer sind Journalisten, obwohl alle mit gut sichtbaren Pressemarken ausgestattet sind. Herminia Serrano von „Radio RQ 910“ erhält einen Säbelhieb auf den Hals, der die Schlagader nur knapp verfehlt, und kommt mit Hirnschäden ins Krankenhaus. Maria-Veronica Tesari vom kolumbianischen Fernsehsender CMI erleidet einen Schädelbruch. Francisco Solorzano, Präsident der Nationalen Journalistenvereinigung, versucht, die Verhaftung eines Studentenführers zu verhindern und wird für einen halben Tag selber in Arrest genommen. Kein Zufall, sagen Kollegen: Solorzano führte einen Journalistenstreik an, als die Regierung für eine Woche die Präsenz eines staatlichen Zensors in jeder Redaktion durchzusetzen versuchte.

Am Abend hallt ein furioses „Cacarolazo“ durch mehrere Stadtteile von Caracas, ein Schlagen auf Kochtöpfe als Zeichen des Protests. Bereits am 10.März hatten Millionen von Hauptstadtbewohnern mit diesem Mittel den Rücktritt des Präsidenten verlangt. Für den 8.April haben „MRB 200“-nahe Bewegungen einen neuen Protesttag festgesetzt.

Machistisches Land

Auch die zurückhaltendsten Beobachter konstatieren einhellig die wachsende Popularität der Putschisten. Zwei Bücher, die über die Ereignisse des 4.Februars berichten, sind erchienen und vergriffen. Videobänder zeigen Aufnahmen des „Comandante“ Chavez: Einige Sekunden lang war er an jenem Tag im nationalen Fernsehen zu sehen, forderte seine Anhänger, die mehrere wichtige Städte in der Provinz unter ihre Kontrolle gebracht hatten, dazu auf, „jedes unnütze Blutvergießen zu vermeiden“ und rief: „Für den Augenblick haben wir unsere Ziele nicht erreichen können — aber es wird andere Gelegenheiten geben.“

In langen Zeitungsartikeln erklären Psychologen die Attraktion des Leutnants mit seiner Selbstdarstellung als „erotischer“ und damit beunruhigender Führer. Man nennt ihn den „Zentaur von Llanos“ (nach seiner Heimatregion) oder den „Cuatriboleado“, den Mann mit vier Hoden. Venezuela ist ein machistisches Land, meint ein Soziologe, und da würde man eben die Verehrung für ihn auf diese Weise ausdrücken — es sei so selten, daß jemand die gesamte Verantwortung für etwas übernimmt, wie Chavez es für den 4.Februar tat.

Die Faszination ist verständlich. Zum einen gelten alle Parteien, auch die oppositionellen Christdemokraten und Linkssozialisten, als Profiteure des Systems. Zum anderen erscheint der Abenteurer Chavez als epischer Charakter, als Figur aus einem Roman von Gabriel Garcia Marquez.

Seit seiner Kindheit, so das Bild, war Chavez von der Furchtlosigkeit seines Urgroßvaters „Maisanta“ fasziniert: Ein General, der im ausgehenden 19.Jahrhundert erfolglos gegen die Diktatoren der Zeit rebellierte. Den Urenkel sehen die neuen Verehrer auf der Linken nun als „Robin Hood“, als Stachel im Fleisch der Macht, als Sprecher des „unterdrückten Volkes“ für eine „partizipative Demokratie“.

Für gut oder schlecht gilt Urenkel Chavez auch als Erbe des „Libertador“ Simon Bolivar, Führer des südamerikanischen Unabhängigkeitskampfes gegen die Spanier, den gegen Lebensende die Zersplitterung der politischen und militärischen Klasse betrübte.

Ausländische Freunde

Gegen ein solches Charisma kann Präsident Perez sich nur der Treue ungeliebter Kreise rühmen: Die „Cogollos“, also die herrschenden Klüngel einschließlich der obersten Militärgrade; die Geschäftswelt; und vor allem das Ausland. Führend: die Sozialistische Internationale und Washington.

Ausländische Unterstützungserklärungen für Perez könnten sich aber in einem so nationalistischen Land wie Venezuela leicht als kontraproduktiv erweisen. Mitte März hielt Luigi Enaudi, US-Botschafter bei der „Organisation Amerikanischer Staaten“ (OAS), eine Rede vor dem Hohen Institut für Nationalverteidigung und warnte das venezolanische Militär, daß OAS und USA im Falle einer Gefährdung der Institutionen „alle notwendigen Schritte“ unternehmen würden. Die Empörung war groß, bis hin zu General Fernando Ochoa, dem Verteidigungsminister: Er erwiderte sogleich, daß die venezolanische Armee jegliche ausländische Einmischung für den Fall einer gewalttätigen Machtergreifung durch zivile oder militärische Gruppen zurückweise.

Das Problem liegt darin, daß die demokratische Ernsthaftigkeit der ausländischen Freunde Perez' angezweifelt wird. Zwar haben sie den Putschversuch schnell verurteilt, doch war ihre Stimme um einiges leiser, als die in der Verfassung garantierten Freiheiten aufgehoben wurden. Und die chronische Gewalt, die Polizei und Militär seit Jahren in ihren Repressionsaufgaben anwenden, stößt auf nur sehr wenig Kritik — wenn überhaupt.

Der Pariser Internationale Bund für Menschenrechte zählt seit Beginn des Jahres 1991 über 300 von den „Sicherheitskräften“ begangene Morde in Venezuela. Die im Lande herrschende Unsicherheit rechtfertigt diese Zahl nicht: Zwar sind Kleinkriminalität und Drogenhandel im Vormarsch, aber die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen gehen bisher straffrei aus. 1988 wurden vierzehn Landarbeiter von Geheimdienstlern gefoltert und ermordet. 1989 starben — je nach Quelle — 300 bis 3.000 Menschen, als Protestler und Plünderer aus den Slumvierteln von Caracas ins Zentrum herunterzogen und die Armee das Feuer eröffnete.

Die Weigerung, ein solches Blutbad zu wiederholen, steht auch am Ursprung der Selbstbeschreibung von Chavez und seinen Mitstreitern als „Volk in Waffen“ — entnommen den Schriftstücken und Tonbändern, die ihre Anwälte aus der Haft schmuggeln.

Krise ohne Ende

So hat sich die „Revolutionäre Bolivaristische Bewegung“ aus den Grenzen der Armee herausbewegt und sich in eine zivil-militärische Bewegung verwandelt, vertreten und angeführt von Studenten, Rechtsanwälten, Verbandsführern und pensionierten Generälen. Ihre Beliebtheit birgt aber auch Zweideutigkeiten und Gefahren: Venezuela beginnt sich an die Idee zu gewöhnen, daß ein Militärputsch die Probleme des Landes lösen könnte. Die andauernde Krise ist Nährboden für Gerüchte: Die Zeitschrift 'Elite‘ behauptet, daß bei einer Verschlechterung der Lage Perez selber eine Art „legalen Staatsstreich“ anstiften wird, indem er konservative Militärs in ein Krisenkabinett holt und ein autoritäres Regime installiert. In den letzten Wochen ging die Geschichte um, daß mehrere Generäle ein Komplott zur Eliminierung des Präsidenten schmieden würden: Man könnte die Verantwortung dann Chavez zuschreiben, ihn hinrichten lassen und ein der Oligarchie zugetanes Militärregime mit einem zivilen Strohmann an der Spitze errichten. Auch ist nicht zu sehen, welche andere Partei sich jetzt als Alternative anbieten könnte. Die Christdemokraten, größte Oppositionspartei, sind von internem Streit gelähmt, da sie seit dem Putschversuch zwei Regierungsminister stellen, und Parteipräsident Eduardo Fernandez droht damit, den ehemaligen Staatspräsidenten Rafael Caldera, der relativ beliebt ist, wegen Indisziplin aus der Partei auszuschließen.

Es gibt aber auch institutionelle Möglichkeiten, die Krise zu lösen. Die parlamentarische Opposition fordert die Wiederherstellung der Freiheiten und die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Diese würde die Machtfüle des Staatspräsidenten beschränken und Perez' Mandat, das 1994 zu Ende geht, verkürzen. Auch in Perez' eigener Partei „Demokratische Aktion“ (AD) haben sich Befürworter eines solchen Vorgehens zu Wort gemeldet. Aber noch weigert sich der Präsident, diesen Weg zu beschreiten, und riskiert damit eine weitere Zuspitzung.