Gesamte frühere DDR-Spitze durchsucht

Großangelegte Durchsuchungsaktion gegen PDS-Parteiarchiv sowie 28 Wohnungen führender DDR-Repräsentanten/ Gesucht wird weiteres Belastungsmaterial in Sachen Grenzregime  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Wegen der Todesschüsse an der Mauer ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft jetzt offensichtlich gegen die gesamte Führungsspitze der früheren DDR. In einer großangelegten Aktion ließ die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsgruppe „Regierungskriminalität“ gestern die Wohnungen führender Repräsentanten der ehemaligen SED-Führung sowie das PDS-Archiv in Ost-Berlin durchsuchen. Dabei sollte nach Angaben der Berliner Justizsprecherin Burghart Beweismaterial im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der Berliner Mauer sichergestellt werden.

Nachdem die Berliner Staatsanwaltschaft in den letzten Wochen wegen ihrer bislang eher schleppenden Ermittlungen in Sachen Regierungskriminalität ins Gerede gekommen war, scheute sie gestern keinen Aufwand, die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. Außer dem PDS-Parteiarchiv und den Privatwohnungen der 19 Beschuldigten wurden auch Wohnungen von 18 Zeugen in Berlin und vier weiteren Bundesländern durchsucht. Dabei kamen 30 Staatsanwälte und 500 Polizeibeamte zum Einsatz.

Frau Burghart widersprach der Vermutung, die Staatsanwaltschaft suche nach neuen belastenden Dokumenten, mit denen die in Arbeit befindliche Anklage gegen den früheren Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker erhärtet werden solle. Die Anklage gegen Honecker wegen Mitverantwortung für die Todesschüsse an der Mauer werde in „wenigen Wochen vorliegen“. Dafür bedürfe es keines weiteren Beweismaterials. Vielmehr suche die Staatsanwaltschaft jetzt nach Beweismaterial gegen weitere Personen aus der DDR-Führungsspitze sowie frühere hochrangige Militärs, die ebenfalls unter dem Verdacht der Mitwirkung an der „Errichtung bzw. dem Fortbestand des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze“ stehen.

Insgesamt handelt es sich um neunzehn Beschuldigte, die, so Frau Burghart, verdächtigt werden, „für die Tötung und Verletzung von mehreren hundert Personen durch Schußwaffengebrauch und Installation von Minen und Selbstschußanlagen strafrechtlich verantwortlich zu sein“

Die Namen der Beschuldigten wurden von der Justizpressestelle nicht genannt. Dem Vernehmen nach handelt es sich dabei praktisch um die gesamte ehemalige Führung, darunter Honecker-Nachfolger Egon Krenz, den ehemaligen ZK- Sekretär für Kultur Kurt Hager, Gewerkschaftschef und Politbüromitglied Harry Tisch, den ehemaligen Wirtschaftslenker Günter Mittag sowie Alfred Neumann, Günter Kleiber und den ZK-Abteilungsleiter Wolfgang Herger.

Bei Ex-Politbüromitglied Günter Schabowski, der in den bisherigen Ermittlungen noch als Zeuge fungiert, klingelte gestern ebenfalls die Staatsanwaltschaft. Doch Schabowski widersprach der Auffassung, das gesamte frühere Politbüro könne für die Vorfälle an der deutsch-deutschen Grenze verantwortlich gemacht werden. „Im Politbüro“, erklärte der frühere Berliner SED-Bezirkschef, „ist nie ausführlich über die Todesschüsse und Todesautomaten gesprochen worden“ Das sei Aufgabe anderer Gremien gewesen. Bei ihm, so Schabowski, hätten die Beamten nur wenige Unterlagen mitgenommen.

Bislang hatte die Staatsanwaltschaft wegen der Todesschüsse an der Mauer gegen die ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, darunter auch Erich Honecker, ermittelt. Dabei stützte sie sich auf zwei Dokumente dieses Gremiums aus den Jahren 1961 und 1974.

Neben Material, aus dem sich die Verantwortung für das Grenzregime rekonstruieren läßt, interessierte sich die Staatsanwaltschaft gestern auch für Unterlagen, die den Vorwurf der Rechtsbeugung zu Lasten ausreisewilliger DDR-Bürger erhärten könnten. In diesem Zusammenhang droht auch Erich Honecker eine Erweiterung der Anklage. Der Vorwurf gründet sich nach Justizangaben auf „zentrale Festlegungen der Partei- und Staatsführung der DDR“, ausreisewillige Bürger strafrechtlich zu verfolgen, ohne daß es dazu eine tragfähige rechtliche Handhabe gegeben hätte. Demnach wurden Ausreisewillige zu Freiheitsstrafen verurteilt. Kündigungsschutzklagen der Betroffenen nach der Haftentlassung seien rechtswidrig abgewiesen worden.

Die PDS bezeichnete die neuerliche Durchsuchung von Parteiräumen sowie die Beschlagnahme von Unterlagen als „rechtswidrig“. Das riesige Polizeiaufgebot diene lediglich dem Zweck, „im Berliner Wahlkampf erneut Stimmung gegen die PDS zu organisieren“, erklärte PDS- Sprecher Hanno Harnisch. Ziel sei es offenbar, die PDS zu „kriminalisieren“. Erst vor wenigen Tagen habe der PDS-Vorstand dem Berliner Landespolizeidirektor Kittlaus sowie Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) schriftlich versichert, daß die PDS alle in den Ermittlungsverfahren benötigten Unterlagen „selbstverständlich zur Verfügung stellen“ werde, erklärte Harnisch weiter. Auf diesen Brief hätte die PDS keine Reaktion erhalten. Auch die Staatsanwälte hätten die Auskunft darüber verweigert, warum das Angebot der PDS auf freiwillige Herausgabe der Dokumente nicht wahrgenommen worden sei.

Die PDS bewertete die Durchsuchung als „ungesetzlich“, weil sich der Gerichtsbeschluß auf die PDS beziehe, die gewünschten Unterlagen aber seit dem 28.3. dieses Jahres dem Bundesarchiv unterstellt seien.