»Verrottetes System« wiederbelebt

■ S-Bahn von Wannsee nach Potsdam rollt wieder/ Feierlichkeiten zum Lückenschluß

Berlin/Potsdam. Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer gab es gestern in Potsdam eine Premiere zu feiern: den ersten Lückenschluß im S-Bahn-Netz zwischen Berlin und Brandenburg. Auf dem Bahnsteig schmetterte das Reichsbahnorchester zum Tusch, als gegen kurz vor neun ein Sonderzug aus Berlin mit Bürgermeister Diepgen, Bausenator Nagel und diversen Senatsbediensteten in Potsdam eintraf. Sie wurden erwartet vom brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe, dem Stadtpräsidenten von Potsdam und einem Großaufgebot von Journalisten. Das bahnfahrende Volk stand ratlos am Rande und lauschte den schönen Reden der Politiker, die für einen Tag Eisenbahner spielen durften. Eine öffentliche Feier in Potsdam gab es nicht. Porschefahrer und Verkehrsminister Krause, der im Vorfeld als Stargast gehandelt worden war und eigentlich die erste S-Bahn nach Berlin hätte steuern sollen, schickte statt dessen Grüße durch seinen Staatssekretär.

Wie schon bei der Planung der Strecke, die nach Berliner Vorstellungen erst im nächsten Jahr hätte eröffnet werden sollen, gab es auch im Vorfeld der Feierlichkeiten Verständigungsprobleme zwischen Potsdam und Berlin. Stadtpräsident Przybilski, Potsdamer Verfechter einer schnellen Inbetriebnahme, war von der Rednerliste gestrichen worden, angeblich durch den Berliner Bausenator Nagel.

Diepgen bezeichnete die S-Bahn als »verrottetes System«, das von der ebenso »verrotteten« DDR übernommen worden sei. Erst 1984, mit der Übernahme des westlichen Schienennetzes durch die BVG, sei die S-Bahn vor dem weiteren Verfall geschützt worden. Daß seitdem drei Viertel des Netzes im Westen stilliegen, versäumte er zu erwähnen. Transparente von protestierenden Reichsbahnern, die die Erhöhung ihrer 60-Prozent-Tarife auf Westniveau forderten, übersahen alle Redner höflich. Die Reichsbahner fühlen sich mit ihren »Dumpinglöhnen« als billige Verdränger der Kollegen von der BVG. Seit dem 1. April betreibt die Reichsbahn den Fahrdienst auf der Stadtbahn allein. Die BVG spart dadurch Geld. Der »Einigungsvertrag« sieht eine Übernahme durch die Reichsbahn vor.

Bis dahin wird der Ausbau des S-Bahn-Netzes, allein schon weil die BVG die Betriebskosten scheut, weiterhin nur schleppend vorangetrieben. Diepgen hob in seiner Rede zwar hervor, er »hoffe« auf weitere Eröffnungen durch die Mauer stillgelegter Strecken. Konkrete Termine gibt es aber über dieses Jahr hinaus nicht.

Kritik am nicht vorhandenen S-Bahn-Konzept des Senats übt vor allem Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen/ AL. Er moniert die Langsamkeit der BVG und der Senatsverwaltung für Bau. »800 Meter in 800 Tagen«, diese Geschwindigkeit errechnete Cramer für den Lückenschluß nach Potsdam.

Immerhin soll im nächsten Jahr der Südring der S-Bahn wieder unter Strom stehen. »Vergessen« hat man im Senat dabei aber eine Lücke zwischen Treptower Park und Sonnenallee. Wegen »technischer Probleme« wird dieses Teilstück erst 1995 in Betrieb gehen. Am Nordring wird noch nicht einmal gearbeitet. Der so gern von den angeblichen Verfechtern des Nahverkehrs im Senat zitierte S-Bahn-»Ring« gleicht bis auf weiteres einem angenagten Hundekuchen.

Die erste S-Bahn von Potsdam nach Erkner wurde trotz aller Querelen und obwohl der Beton des Bahnsteigs noch nicht ganz trocken war, pünktlich um 9.45 von Ministerpräsident Stolpe abgefertigt. Dieser blieb aber schon hier zurück und stieg nicht zum Kollegen Diepgen ins Sonderabteil für Ehrengäste. Der Regierende selbst, so berichteten Augenzeugen, verließ am Bahnhof Wannsee den Zug und bestieg seinen Dienstwagen. Andreas Becker