Nichts passiert in Chile?

■ Neue chilenische Filme im Filmkunsthaus Babylon/Mitte

Venceremos — »Wir werden siegen«: das war 1970, im Jahr des beispiellosen Wahlsieges der Unidad Popular, der programmatische Titel eines Dokumentarfilms von Pedro Chaskel. Unter der Losung unterstützten chilenische Filmschaffende den Wahlkampf des siegreichen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende und traten noch im gleichen Jahr mit einem »Politischen Manifest« an die Öffentlichkeit. Darin wurde erklärt: »Vor unserem Engagement als Filmemacher steht das politische und soziale Engagement für unser Volk, für seine große Aufgabe: den Aufbau des Sozialismus.«

Jahrzehntelang fristete das chilenische Filmwesen — mit Jahr für Jahr einer einzigen Spielfilmproduktion— ein zweifelhaftes Scheindasein. Erst Anfang der sechziger Jahre begann sich die Situation mit der Einrichtung zweier Zentren für die Produktion von Kurzfilmen zu verändern: des Filminstituts der »Universidad Catolica« und des Experimentalfilmzentrums der staatlichen »Universidad de Chile«. Beide wurden zu Sammelbecken der unabhängigen und politischen Filmarbeit.

Auf dem ersten »Festival des Lateinamerikanischen Films« in Vina del Mar, das 1967 aus bescheidenen Amateurfilmwochen hervorging, schlug schließlich die Geburtsstunde des Jungen Chilenischen Films. Die christdemokratische Regierung unter Eduardo Frei brachte ein Gesetz zur Förderung des nationalen Films ein, das einer neuen Generation talentierter Filmemacher wie Raúl Ruiz, Miguel Littin, Aldo Francia oder Helvio Soto — alles Leute, die den internationalen Ruf des chilenischen Films begründeten — zu ihrem Debüt verhalf. Eine Bewegung, die unter dem marxistischen Amtsnachfolger Allende mit der Nationalisierung von »Chile Films«, der größten einheimischen Produktionsfirma, zum Höhepunkt kam.

Trotz chronischen Kapitalschwunds und politischen Fraktionsstreits nahm das Filmschaffen in den folgenden drei Jahren der UP-Regierung mit einem Dutzend Spielfilmen und an die hundert Dokumentarfilmen einen enormen Aufschwung, eine Entwicklung, die mit dem faschistischen Militärputsch und der Ermordung Allendes im September 1973 abrupt abbrach. Mit der Zerschlagung der Filminstitutionen, der Vernichtung der Archive, der Schließung der Filmschulen und der letztlichen Aufhebung des Filmförderungsgesetzes kam das einheimische Filmschaffen unter dem Pinochet-Regime beinahe völlig zum Erliegen. Bis auf vereinzelte Produktionen im Untergrund wird die chilenische Filmgeschichte zu einer Geschichte des Exils. »Die hiergebliebenen Filmschaffenden haben entweder keine Arbeit mehr, oder sie müssen sich das Brot durch die Herstellung von TV-Werbespots verdienen. Das heißt im Klartext, daß heute nur noch alle fünf bis sechs Jahre ein unabhängiger Spielfilm entsteht. Das ist tatsächlich zuwenig, um von der Weiterexistenz eines nationalen Kinos reden zu können. Und trotzdem lebt der Traum davon weiter in uns allen...«, beschwor Silvio Caiozzi, Präsident der chilenischen Film- und Fernsehproduzenten Assoziation, 1980 in einem Interview in Berlin die Hoffnung auf eine Wende in seinem Heimatland.

Ein Stück des Traumes ging für den Einzelkämpfer Caiozzi mit der Fertigstellung seines Films Julio comienza en Julio (Julio beginnt im Juli, 1975-79) in Erfüllung. Er schildert die strengen Rituale und starren Sitten in einem Latifundista- Clan, der den heranwachsenden Sohn nach europäischem Modell formen will. Der jedoch rebelliert gegen das scheinheilige Getue, läßt sich auf eine Beziehung zu einer Prostituierten ein — und damit das ganze mühsam zusammengehaltene Imperium auffliegen???. Um der rigiden Zensur zu entgehen, verlegte Caiozzi die in sorgfältigen Sepiatönen gestaltete Parabel an den Anfang dieses Jahrhunderts. Allein in Santiago strömten seinerzeit Hunderttausende in den Film, der als mutmaßlich letzte chilenische Produktion in die führenden Kinos der Hauptstadt kam.

Julio comienza en Julio gehört mit Caiozzis neuem, international preisgekröntem Werk La luna en el espejo (Der Mond im Spiegel, 1990), zwei Spielfilmen von Gonzalo Justiniano (Caluga o menta, 1990) und Alfredo Rates (La Nina en la palomera, 1990) sowie dem von Studenten der Filmschule »Arcos« geschaffenen Kurzfilm Panama (1991) zu einer Filmreihe, mit der das Filmkunsthaus Babylon auf den hierzulande noch kaum beachteten Neuanfang des chilenischen Films nach dem Ende der siebzehnjährigen Militärherrschaft aufmerksam macht.

Einer der jüngsten lokalen Box- Office-Hits, der überraschend in die Phalanx der marktbeherrschenden Hollywood-Majors einbrechen konnte, ist Caluga o menta. Gonzalo Justiniano, der vor einigen Jahren aus dem französischen Exil heimkehrte, erzählt die triste Lebensgeschichte von Niki, einem jungen Arbeitslosen, der mit seinen Freunden am Stadtrand von Santiago herumlungert, um irgendwie die Zeit totzuschlagen. Marginale Figuren, denen auch noch die bescheidene Randexistenz streitig gemacht wird. Wo das Leben nichts gilt, werden Grausamkeiten und Gewalt alltäglich.

Ein ernüchternder Blick auf »die jungen Chilenen der neunziger Jahre«, denen der Film gewidmet ist. Die Distanz zum hoffnungsfrohen Venceremos aus den verflossenen Tagen der Volksfront, wie sie im aktuellen Losungswort von Chiles lost generation zum Ausdruck kommt, könnte kaum größer sein: »no pasa nada« — nichts passiert. Roland Rust

Die Reihe mit neuen chilenischen Filmen läuft im Filmkunsthaus Babylon (Mitte) am 2. und 3. April, in OF mit engl. UT oder dt. eingespr. Die Regisseure Alfredo Rates und Guillermo Cifuentes werden ihre Arbeiten persönlich vorstellen.